Mittwoch, 16. November 2011

Herbst, Nebel, Squatting Action

Bevor sich hier gar niemand mehr auskennt - verloren zwischen Übertreibungen, Untertreibungen, Polizei-Aussendungen, Boulevard-Medien-Gewäsch und Szene-Klatsch - ein möglichst knapp gehaltener Rückblick über die unangekündigte Herbst-"Squatting Action", die als Begleiterscheinung der "Occupy"-Bewegung - ohne aber mit dieser in direktem Zusammenhang zu stehen - Mitte Oktober über Wien hereinbrach.

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit! Was die Einrichtungen im Haus betrifft (Frauenraum, Medienraum, Kunsträume, Freie Universität, Plenarsaal etc.) und was die Reaktionen der Medien betrifft (insbesondere "Heute" betrieb mit untergriffigen Anschuldigungen eine Kampagne gegen die HausbesetzerInnen, während sich der "große Bruder" Kronen Zeitung eher zurückhielt und "nur" Polizei- und BUWOG-Mitteilungen zitierte) sei auf den Blog (epizentrum.noblogs.org) bzw. den dortigen umfangreichen und gut sortierten Pressespiegel verwiesen.

Ein turbulentes Monat liegt hinter Neubau:
- 2 Hausbesetzungen (27 und 5 Tage) im Siebten Bezirk (Neubau)
- 1 spontane Kleindemo unmittelbar nach der Epizentrum Räumung im Siebten.
- 1 "Groß"-Demo mit 150 bis 200 TeilnehmerInnen nach der Epizentrum-Räumung im Siebten.
- 3 Reclaim the Streets / spontane Klein-Demos durch den Siebten (14.10., 12.11., 15.11.) mit je 40 bis 80 TeilnehmerInnen
- Kurzzeit-Besetzung des Audimax und des C1 am Campus am 15.11.

epizentrum - Lindengasse 60-62 - 13. Oktober bis 8. November (27 Tage)
- 13. Oktober 2011:
am Abend wird das Areal Lindengasse 60-62 still besetzt.

- 14. Oktober:
am Vorabend der lang angekündigten "Occupy Austria"-Proteste wird die Besetzung veröffentlicht, zunächst gegen 17 Uhr auf Indymedia. Nach und nach kommen nun Leute ins Haus, gegen 22:30 Uhr treffen etwa 35 Leute von einem kleinen Reclaim the Streets-Umzug mit mobilem Soundsystem im Haus ein. Das Areal füllt sich mit Leuten, deren Zahl kann nur grob geschätzt werden: bis zu 400 Leute dürften zum Höhepunkt gleichzeitig im Haus gewesen sein, in jedem Stockwerk in jedem Raum waren Leute versammelt, chillten, diskutierten, musizierten. Auch am Dach, im 62er-Haus und im Hof befanden sich viele Menschen. Berücksichtigt man das ständige kommen und gehen dürften wohl 700 bis 800 Leute, vielleicht sogar mehr, zumindest für eine Weile im Areal gewesen sein. Bier wird palettenweise angeliefert, ein fliegender Bier-Verkäufer überbrückt Engpässe. Klar, die Bier trinkenden Linken, werden sich nun manche reflexartig denken (oh, wie schlimm!). Aber was passiert eigentlich genau an JVP-Festen, bei Heimfesten in Bastionen der "Aktionsgemeinschaft" wie dem Pfeilheim ("Dein Weg zum Gipfel und zum Titel führt über 11 Stockwerke und jeder Menge Alkohol"), an den WU-Cocktail-Partys und bei Burschenschafter-Treffen? Na eben! Wer im Glashaus sitzt sollte nicht mit Steinen werfen - oder anders gesagt: Belügt euch nicht selbst ;)

- 15. Oktober:
Der Tag beginnt mit dem großen Aufräumen. Ja, richtig, "Chaoten" räumen auch auf. Das steht zwar nicht in "Heute", "Krone" und "Österreich" - dafür stehts hier. Ist offenbar ein Aspekt, der viel zu wenig beachtet wird (sonst würde nicht ständig von "Chaoten" geschrieben werden). An der Occupy-Demonstration am Abend über die Mariahilfer Straße werden Flyer verteilt, die zum Besuch des neuen Freiraums "epizentrum" einladen. Bis zu 200 Leute halten sich gleichzeitig im Haus auf, einige hundert mehr dürften insgesamt an diesem Tag vorbeigeschaut haben.

- 16. Oktober:
Es ist Sonntag. Üblicherweise wird Montags geräumt. Es werden Barrikaden (weiter) gebaut, etwa 100 Leute versammeln sich am Abend, viele übernachten.

- 17. Oktober:
Graffiti im Hof
Montag. Keine Räumung. Nun werden Pläne für die kommende Woche geschmiedet. Erstmals in einem besetzten Haus in Wien seit vielen vielen Jahren soll ein eigenes Beisl für Veranstaltungen und um Spenden hereinzubringen errichtet werden - und natürlich, weils Spaß macht :) Viele nutzten den Tag aber um einmal zu entspannen, mit "nur" 50 Leuten am Abend war dies der bisher ruhigste Tag.

- 18. Oktober:
Sprayer (leider kaum Sprayerinnen) übernehmen allmählich das Areal: An immer mehr Orten arbeiten - großteils - Künstler an kleinen und großen Werken, übermalen hässliche (und ja, meinetwegen auch schöne) Tags. Am Abend wieder mehr los im Haus, es herrscht Aufbruchstimmung.

- 19. Oktober:
Barbetrieb ab 20. Oktober - keine Preise - freie Spende!
die erste Getränke-Lieferung erreicht das Haus: 11 Kisten Kozel Bier, 11 Kisten Club Mate. Die Getränke werden nicht verkauft sondern gegen freie Spenden hergegeben. Das Prinzip funktioniert - trotz großer Skepsis bei vielen. Da die Getränke in Flaschen geliefert werden wird eine Menge Dosen-Müll eingespart, das Leergut wird vom Lieferanten wieder abgeholt.

- 20. Oktober:
die Bar ist fertig und wird feierlich eingeweiht! Musik kommt aus dem CD-Player, Boxen werden angeschlossen. Viele Leute besuchen das neue Beisl, auch Nachbarn aus dem Bezirk. Alle (ja, wirklich alle!) sind begeistert, was sich auch in großer Spendenbereitschaft ausdrückt.

- 21. Oktober:
Critical Mass zieht ins Epizentrum
Das Highlight, wenn man so will, der epizentrum-Besetzung. Weit über 1.000 (!) Leute - genaueres lässt sich nicht sagen, vielleicht warens auch 2.000? - kamen an diesem Abend, in dieser Nacht, für kurz oder lang zum Haus. Gleichzeitig waren sicherlich über 500, 600 Leute im Areal, am Tor herrscht reger Ein- und Ausgangsbetrieb. Der Grund: Um 19:30 traf die Oktober-CriticalMass-Fahrrad-Demo mit dem Epizentrum als Zielpunkt ein. Ab 20 Uhr begann das Lastenrad-Kollektiv mit seiner Soli-Party, die eigens vom Tüwi hierher verlegt wurde. Es gab Soli-Cocktails, Glühmost, Volxküche und Bar-Betrieb.

Critical Mass zieht in den - um 20 Uhr noch relativ "leeren" Hof ein
Zwei Konzerte fanden statt (die ersten im Haus). Ein oder zwei Stunden nach Mitternacht begann ein Tekno-Soundsystem, vermutlich Fazit:0, im Beisl aufzulegen. Die Stimmung war einzigartig und euphorisch. So weit die "Sonnenseite". Da es noch keine strikte Raum-Aufteilung (öffentlich/privat) im Haus gab, litten jedoch einige HausbewohnerInnen auch unter diesem Auflauf. Es kam auch mehrere Zwischenfälle mit alkoholisierten Personen bzw. Personen, die übergriffig wurden und rausgeschmissen werden mussten. Das ist die Schattenseite, die solche Veranstaltungen leider zwangsläufig (?) mit sich bringen. Um 5:30 wurde aus genannten Gründen - nach mehreren Ankündigungen/Bitten, die Party ausklingen zu lassen - das Soundsystem abgestellt, Teile der etwa 100 tanzenden Gäste sowie die DJs [das Soundsystem legt Wert auf die Feststellung, das man sich nicht über das Ende der Party empört hat sondern nur am WIE - hineingreifen ins Mischpult - etwas auszusetzen hatte; Anm. v. 20.11.] konnten diesen Schritt nicht nachvollziehen und empörten sich, es gab Buh- und "Widerstand"-Rufe. Es gelang ohnehin nicht, die große Zahl Menschen aus dem Areal zu befördern - niemand sah sich dazu imstande oder war willens. So dauerte es bis etwa 8 Uhr früh, bis nahezu alle Gäste das Areal verließen.

An diesem Freitag zeigte sich am besten der Widerspruch, der zwischen den verschiedenen Interessen und Zielen von Hausbesetzungen besteht: einerseits möchte man einen Freiraum für möglichst viele Menschen schaffen und das beste Rezept gegen eine polizeiliche Räumung ist ein volles Haus - andererseits ist es energieraubend für jene, die auch im Haus wohnen und sich verantwortlich fühlen, sich ständig darum kümmern zu müssen, dass das Tor durchgehend kontrolliert wird, das Menschen, die ihre eigenen Grenzen nicht kennen und/oder ignorieren und dabei viele andere Menschen belästigen, verbal oder physisch attackieren, hinauszuschmeißen. Freiraum kann nicht bedeuten, dass jedes Verhalten geduldet wird. Ein Freiraum setzt von seinen Nutzer/innen ein großes Maß an Eigenverantwortung voraus. Dies muss deutlicher kommuniziert werden, Gäste müssen aus ihrem "KonsumentInnen"-Schema ausbrechen und ebenfalls Verantwortungsgefühl für den Ort, den Freiraum und das Zusammenleben entwickeln. Insbesondere sexistische Verhaltensweisen wurden vielfach kritisiert und wurden vielfach den BesetzerInnen angelastet, dass diese sie "dulden" oder ignorieren würden.

22. Oktober:
Samstag. Katerstimmung. Aufräumen. Es wird ein Ruhetag ausgerufen, das Tor bleibt am Abend meist geschlossen. Der Wohnbereich wird mit einer versperrbaren Gittertür vom "öffentlichen" Bereich abgetrennt. Das System ist jedoch nicht weit genug durchdacht, da sich unter anderem Versammlungsräume im "privaten" Teil befinden, ebenso die Volxküche, über die viele Leute weiterhin in eigentlich "abgetrennte" Bereiche eindringen.

23. Oktober:
Versöhnlicher Sonntag: Ab Mittag betreibt "Tanz durch den Tag" Kunst & Auflegerei im Haus. Im Hof wurde ein Glühwein- und Bier-Stand aufgebaut, auch Kürbiscremesuppe wird ausgeteilt - auch hier: freie Spende! Man hat aus den Erfahrungen vom Freitag gelernt und von Anfang wurde vereinbart und auch an die Gäste kommuniziert, dass um 22 Uhr Schluss ist. Das Publikum - gegen Schluss hin um die 300 Leute - reagierte auf das Ende der 8-stündigen-Tagesparty mit Applaus und Jubel statt mit Enttäuschung und Frust. Es dürfte sich hierbei um die erste und einzige "Tanz durch den Tag"-Party gehandelt haben die - ohne Polizei-Einwirken - tatsächlich um 22 Uhr beendet wurde :)

24. Oktober:
Großes Haus-Plenum (nicht das erste, aber diesen Montag prägend: Gespräche, Reflexion, Diskussion)

26. Oktober:
Das Epizentrum begeht den Anti-Nationalfeiertag. Es gibt "Punk-Beisl" mit entsprechender Musik und Bier.

28. Oktober:
Auch diesen Freitag blieb es nicht ruhig im Haus. Es sollte früher geschlossen werden als sonst, tatsächlich wird aber erneut bis nach 5 Uhr Bier zusamen gesessen, geredet, gechillt, gefeiert. Nähere Aufzeichnungen liegen nicht vor ^^

29. Oktober:
Samstag. Schon wieder ein Grund zu feiern. Dieses Mal wird jedoch gegen Mitternacht das Tor geschlossen, die Nacht bleibt ruhig.

30. Oktober:
Sonntag: Ruhetag. Mehr oder weniger.

31. Oktober:
Bis zuletzt war nicht ganz klar ob ja oder nein: Letztlich begann aber doch um 23 Uhr das Psychedelic-Rock von "Half Baked Cheese" - etwa 70 Leute befanden sich deshalb im Beisl und lauschten wie gebannt der Musik. Nach einem zweistündigen Tekno-Intermezzo ging es gegen 2 Uhr nochmals mit einer Jam-Session weiter. Leider war das auch schon das letzte Konzert im Haus.

1. November:
Die Räumungsdiskussion gewinnt allmählich wieder Oberhand. Die BUWOG hatte die Verhandlungen für beendet erklärt und stellte (erneut) ein (letztes) Ultimatum zum Verlassen des Hauses bis Mittwoch, 18 Uhr.

2. November:
Als um 18 Uhr das BUWOG-Ultimatum endet befinden sich etwa 200 Personen im Areal. Darunter dutzende Vermummte, die bereit scheinen, das Haus zu verteidigen. Logischerweise kommt deshalb keine Polizei. Uniformierte, die das Haus beobachten, werden bald durch zivile Beamte und den Verfassungsschutz ersetzt. Dieser fotografiert aus dem Treppenhaus des gegenüberliegenden Gemeindebaus das Areal und auch das Dach, wo herumliegende Steine offenbar als Bedrohung wahrgenommen wurden.

3. bis 7. November:
Die Diskussionen um "Freiraum vs. Schutzraum" beanspruchen fast alle Energie. Zudem stellte die BUWOG den Strom ab, es gibt nur noch teilweise Strom, der mit Benzingenerator erzeugt wird. Es gibt nur noch wenig Programm im Haus, von Außen kommt viel Kritik und wenig Beteiligung.

8. November:
Der zweite Tag der neuen Woche, mit neuer Energie nach Tagen der Reflexion sollen neue Projekte vorangetrieben werden, etwa ein Proberaum für MusikerInnen, ein fixer Bar-Tag inklusive Ruhetagen, alternative Stromversorgung, Beheizungsmöglichkeiten über den Winter bzw. Isolierung von Fenstern und Dach uvm. - doch dazu kommt es nicht mehr. Ab 11 Uhr rücken rund 200 PolizistInnen zur Räumung an: Aufgrund der Steine am Dach des 62er-Hauses wird sogar ein Hubschrauber eingesetzt, dieses Haus wurde auch als erstes gestürmt um das Dach zu besetzen. Wegen dem massiven Stahltor und befürchteter schwerer Barrikaden wird erstmals seit Jahren auch der Räumungs-Panzer beigezogen - dient aber letztlich nur als Befestigung für das Absperrband mit der bezeichnenden Beschriftung "STOPP POLIZEI".

Die Räumung verläuft friedlich, das Polizeiaufgebot wirkt absurd. NachbarInnen vermuten einen Banküberfall, andere fühlen sich wie in einem Polizeistaat (vgl. Zeitungsberichte und Video-Beiträge im Pressespiegel).

Es kommt zu einer Spontandemonstration mit etwa 70 Beteiligten zur Neubaugasse/Mariahilfer Straße, wo die Demo mit einem Kessel beendet wird.

Demonstration am Abend

Die vom ersten Tag an angekündigte Demonstration um 18 Uhr an einem kurzfristig veröffentlichten Treffpunkt findet ebenfalls statt. Treffpunkt war Urban-Loritz-Platz, die Polizei wusste davon, aber viele SympathisantInnen nicht - insofern war die Geheimhaltung bis 17 Uhr unnötig, es wären mehr als 150 bis 200 Leute gekommen, hätten mehr davon früher gewusst. Zivil-Polizisten belauschten die wenig koordinierte Menge am Platz und informierten ihre Kollegen, dass die Demo über den Gürtel zum Westbahnhof und über die Mariahilfer Straße zum Museumsquartier ziehen will. Dementsprechend wurde der Gürtel zwischen Urban-Loritz-Platz und Westbahnhof rasch blockiert, ein Kessel hätte gebildet werden sollen, doch die Menge wechselte geistesgegenwärtig die Fahrtrichtung und zerstreute sich teilweise - ein Teil zog zurück zur U-Bahn-Station Burggasse und wurde dort am Bahnsteig gekesselt. Der Rest zog in Kleingruppen zum Museumsquartier. Der U-Bahn-Kessel wurde aufgelöst unter der Vereinbarung, dass die Leute friedlich über die Burggasse zum Museumsquartier ziehen - was dann auch geschah. Die Zugänge zum Museumsquartier wurden freilich von weiteren PolizistInnen bewacht - insgesamt 30 VW-Busse der Polizei wurden an diesem Abend gezählt, was mindestens 240 Einsatzkräfte bedeutet. Nachdem sich die Burggassen-Demo und die Leute vom Museumsquartier vereinten und - etwas planlos, da der Treffpunkt im MQ ausgelassen wurde - weiterzogen, kesselte die Polizei etwas zaghaft die Menge am Getreidemarkt. Die meisten Leute konnten entkommen, einige Unentschlossene durften nun 4 Stunden in der Kälte ausharren. Wer filmte oder fotografierte und den Amtshandlungen "zu nahe" kam wurde verhaftet. Insgesamt vier Verhaftungen wurden an diesem Abend vorgenommen, mindestens zwei davon nur wegen Filmens und Fotografieren. Nach mehreren Stunden Haft wurden sämtliche Personen wieder entlassen, vorgeworfen wird ihnen wohl irgendwas zwischen Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung, Versammlungsrecht und möglicherweise auch Körperverletzung - das übliche halt, um AktivistInnen und jene, die Aktivismus und Polizeihandlungen in diesem Zusammenhang dokumentieren, "auszudämpfen".

Kessel am Getreidemarkt - 40 DemonstrantInnen wurden bis zu 4 Stunden festgehalten

Weitere Vorfälle gab es keine - lediglich von einer eingeschlagenen Auslagenscheibe in der Neubaugasse erzählt die Polizei (wenngleich die Demo am Abend nie in der Neubaugasse war und niemand den Vorfall bestätigen konnte), angeblich wurde auch am Gürtel eine Fenster- oder Autoscheibe eingeschlagen, was ebenfalls nicht bestätigt werden kann. Dennoch ließen sich Krawallzeitungen dazu hinreißen, von Krawallen zu schreiben. Fragt sich, wie die Zeitungen es nennen werden, sollte es tatsächlich einmal zu Krawallen kommen. Vermutlich wird dies dann als Bürgerkrieg oder nuklearer Weltkrieg bezeichnet. Dem Superlativismus des Boulevards sind bekanntlich keine Grenzen gesetzt.

horrende Einsatzkosten

Ein großer Bus der Polizei wurde beim Einfahren in die Stiftskaserne gesichtet. Vorsichtig geschätzt kann man sicherlich von 300 PolizistInnen ausgehen, die ab der Räumung um 11 Uhr Mittag bis weit nach Mitternacht in Dienst oder Bereitschaft waren. Bei einem Brutto-Stundenlohn pro Dienststunde von 25 € (ohne Zuschläge!) ergibt allein das rund 4.000 Dienststunden bzw. 100.000 € Kosten. Zuschläge, Betriebsaufwand (Hubschrauber, Räumpanzer, Fahrtkosten, Straßensperren etc.) mit eingerechnet kommt sicher noch eine Menge dazu, die Einsatzkosten könnten also bis zu 200.000 € betragen oder mehr - Auskünfte dazu gibt die Polizei freilich keine. Man kann jedoch davon ausgehen dass die Wiener Polizei pro Jahr ein paar Millionen Euro nur für Demonstrationen und Räumungen aufwenden muss. Zumindest Räumungen von leerstehenden Häusern könnte sich die Polizei sparen, gäbe es - wie von Rot und Grün im Koalitionsabkommen vereinbart - endlich die legale Möglichkeit von Zwischennutzungen bis zum Abriss/Neuverwendung von leerstehenden Häusern. Doch bislang ist trotz vieler Ankündigungen seitens der Grünen nichts in diese Richtung geschehen, selbst Lippenbekenntnisse bleiben aus.

Wilde 13

11. November:
Nur 3 Tage nach der Räumung des epizentrums wurde ein Ausweichquartier in der Westbahnstraße 13 bezogen. Es hätte ein ruhiger Versammlungsort werden sollen, doch stattdessen rief der Künstler (der nach eigenen Angaben auch im Epizentrum war und die Sache unterstütz hat), der im Erdgeschoß Ausstellungsflächen, die nicht von der Besetzung betroffen waren, angemietet hat, die Polizei. Diese begann um 21 Uhr mit einer 24-stündigen Belagerung, die ergebnislos (das Haus blieb besetzt) beendet wurde. Ursprünglich hätte das Haus allem Anschein nach noch am selben Abend - ohne Räumungsbescheid, wie zuletzt im Sommer mehrmals geschehen - illegal geräumt werden sollen. Ebenso illegal war wohl das Eindringen der PolizistInnen in den Hof des Gebäudes, der auch von NachbarInnen genutzt wird, da zu diesem Zeitpunkt noch kein Eigentümer ermittelt und kontaktiert werden konnte. Nichtsdestotrotz besetzte die Polizei um 23 Uhr den Hof und verbarrikadierte (!) das Einfahrtstor mit Holzlatten und bewachte die Eingänge zur Westbahnstraße.

Als eine 20 Mann/Frau starke Einsatzeinheit beigezogen wurde und in den Hauseingang drängte drohte die Lage zu eskalieren: Die BesetzerInnen im Haus waren entschlossen, die (illegale) Räumung nach nur wenigen Stunden Besetzung abzuwehren, zündeten Feuerwerkskörper (Foto) und schmissen Dosen und angeblich auch Bierflaschen auf die Straße und das dort geparkte Polizeifahrzeug. Die Polizei zog sich daraufhin zurück, blieb jedoch in ihren Einsatzfahrzeugen noch die ganze Nacht hindurch vor Ort in "Bereitschaft". Wozu die Bewachung eines besetzten Hauses gut sein soll, konnte sich nicht einmal die "Steuerzahler"-Watchdog-Zeitung "Heute" nicht erklären.

Zufälligerweise fand am selben Tag erneut eine "Occupy"-Demonstration statt, wie schon bei (kurz nach) der Besetzung des "epizentrum".

12. November:
in der Wilden 13
Das belagerte Haus wird von draußen mit Lebensmitteln und Wasser versorgt - Strom ist hingegen vorhanden. Außerdem gehen einige Leute über eine Leiter ein und aus, was die Polizei nicht bemerkt.

Am Abend zieht eine "Reclaim the Streets"-Tanzdemo vom Museumsquartier über die Mariahilfer Straße, Lindengasse, Ex-Epizentrum zur Westbahnstraße. Die Polizei stößt erst in der Lindengasse dazu, bis dahin steckten Streifenwägen im Verkehr fest. Die Polizei umstellte nun das Epizentrum, ein Teil folgte der Demo bis zur Westbahnstraße - dort eilten PolizistInnen rasch zu den Eingängen um ihre KameradInnen zu verstärken - doch diese ließen ihre ans Tor polternden Kollegen gar nicht erst hinein. Foto des Demo-Zuges und Bericht im Kurier.

der Ton wird rauer?
Die Demonstration, etwa 50 Leute, zerstreute sich nun und kehrte etwa eine Stunde später zum Haus zurück. Die Polizei war offenbar verwirrt und besetzte mit jeweils zwei Mannschaftswägen zentrale Punkte im Siebten Bezirk - mit Helm und Schildern aufgestellt! So etwa in der Lindengasse und in der Neubaugasse. Man befürchtete offenbar Krawalle.

Als gegen 20 Uhr erneut einige Leute vor der Westbahnstraße 13 versammelt waren zog die Polizei unvermittelt ab. Das Haus war nun wieder zugänglich.

14. November:
Ein Lokal-Augenschein des Standard ergibt, dass sich nur wenige Menschen im Haus und im Hof befinden. Leute im Hof, die sich um einer Feuertonne wärmten, werden mit "der harte Kern ist grad einkaufen oder so" zitiert ^^ - diese Chaoten!

15. November:
Erneut "Reclaim the Streets"-Tanzdemo. Dieses Mal nur rund 40 Personen, die ins Museumsquartier ziehen und ca. 1,5 Stunden mitten im Haupthof tanzen und Parolen rufen ("Kein Gott, kein Staat, kein Mietvertrag"), auch auf das Sicherheitspolizeigesetz, das an diesem Tag vom Ministerrat abgesegnet wurde, wurde kritisch Bezug genommen. Securities und Polizei können keinen Grund zum Einschreiten finden - BesucherInnen des Museumsquartiers zeigen sich überwiegend amüsiert. Sogar ein Mann im Spiderman-artigen Superheldenkostüm mit "MQ"-Logo drauf ("MQ-Man"?) stoßt zur Menge und tanzt frenetisch zu "Fight for your right to party" - um danach ebenso unerkannt wieder zu verschwinden wie er aufgetaucht ist.

Audimax-Intermezzo:
Die Tanzdemo wird danach zur Hauptuni verlagert und zieht dort unter großer Verwunderung und teilweise Jubel der Publizistik-Erstsemestrigen ins Audimax ein. Die PUK-Vorlesung wird abgebrochen, die meisten Studierenden bleiben. Die nachfolgenden "Pharmazie"-Studierenden, die schon bei ihrem Versuch, Medizin studieren zu wollen, einen herben Rückschlag erfahren haben, verstehen hingegen keinen Spaß: Sie wollen ihre Vorlesung, ihr Professor und sein Schani preschen vor: der Schani zieht das Kabel, der Professor lässt abstimmen, ob seine Untergebenen lieber Vorlesung oder Besetzung hätten. Ohne Gegenreaktionen abzuwarten erklärt er unter großem Jubel die Besetzung für beendet. Pharmazie-Studierende werden derweil im Internet endgültig zu den uncoolsten Studierenden Österreichs verdammt.

Die TanzdemonstrantInnen nehmens gelassen und ziehen weiter zum C1, wo die Internationale Entwicklung Vollversammlung abhielt - ihr Studium soll bekanntlich abgeschafft werden. Dennoch wollen sich viele die "gute Gesprächsbasis" mit dem Rektor nicht verscherzen und überlassen es jedem/jeder einzelnen Studierenden selbst, ob sie besetzen wollen oder nicht. Etwa 50 Leute bleiben und erklären den C1, oder besser gesagt dessen Foyer, für besetzt. Es wird über das Sicherheitspolizeigesetz, Uni-Politik und Freiräume diskutiert und pleniert, folgender Text wurde veröffentlicht: Der Hut brennt und die Kacke dampft.

16. November:
Die C1-Besetzung wurde nach einer Nacht beendet. Polizeieinsatz gab es weder beim Audimax- noch beim C1-Intermezzo. Stattdessen "räumte" die Polizei die "Wilde 13", die jedoch bereits seit mindestens einem Tag ohnehin wieder leer stand. Ein "Heute"-Bericht am Dienstag berichtete von "Krawallen" im "Öko-Bobo-Bezirk Neubau" ohne jedoch zu erwähnen, dass sich die erwähnten Vorfälle am Freitag, also vier Tage zuvor, ereigneten, und wohl kaum die Bezeichnung verdienen. Es sei denn, eine hingeschmissene Bananenschale auf einem Gehsteig würde als Terroranschlag durchgehen.

... to be continued!

Dienstag, 25. Oktober 2011

BUWOG-Areal in Wien-Neubau besetzt - Epizentrum eröffnet!

[letztes Update: 25.10.2011]
Diesmal ist alles anders - und doch ist es nur die logische Fortsetzung dessen, was in Wien in den letzten Jahren, katalysiert durch die Audimax-Besetzung 2009, an alternativen Strukturen entstanden ist. Statt einer Hörsaal-Besetzung oder einer weiteren Demonstration mit verhältnismäßig (zu) geringer Beteiligung um in der festgefahrenen österreichischen Politik Gehör zu finden einfach machen, wovon andere bestenfalls reden - meist aber nicht einmal das. Wo von den Medien erfundene "Wutbürger[innen]" gegen - wie man meinen könnte - "eigentlich eh olles" demonstrieren (womit sie ja "eigentlich eh" auch recht haben) nehmen sich jene, die in der Reflektion und Analyse der "Euro/Schulden/Griechen/Kapitalismus/und eigentlich eh olles-Krise" schon ein Stück weiter sind, statt aufgestauten Frust und Wut (dieses Ventil ist bei jenen ohnehin permanent geöffnet) an unschuldigen Parks und Plätzen abzulassen, einfach den Raum der uns (eigentlich?) ohnehin allen zusteht / zustehen sollte.

In der Nacht von 13. auf 14. Oktober wurden die über einen Hof zusammenhängenden Gebäude Lindengasse 60-62 (bzw. Zieglergasse 19) besetzt. Exakt drei Monate nach der Räumung des Lobmeyr-Hofes, dessen Besetzung einiges an Staub aufgewirbelt hat und "Wiener Wohnen", den kapitalistisch bewaffneten Arm der Wiener SPÖ, gehörig in Erklärungsnotstand gebracht hat (ebenso die Grünen, die die "Legalisierung von Zwischennutzungen" ins Koalitionsprogramm hineinverhandelt hatten, sich nun aber machtlos dem Treiben von Inseraten-Stadtrat Michael Ludwig ausgeliefert sahen). Unnötig zu erwähnen, dass dieser Notstand bis heute nicht aufgelöst wurde. "Hände falten, Goschn halten" ist kein Verhaltensmonopol des Klein- und Spießbürgertums. Mehrere Beiträge von WienTV, in denen sowohl die Pressesprecherin der Wiener Polizei als auch die Direktorin von Wiener Wohnen interviewt worden, sagen mehr als tausend Worte (alle Videos im Blog-Eintrag vom 14. Juli).

Schutzzone, BUWOG und Neubauer Grüne - wie geht das zamm?

Dieses Mal jedoch ist das Haus nicht am Stadtrand sondern im Zentrum, es sind nicht Sommerferien sondern Semesterbeginn (wenngleich Studierende nur ein Teil des Ganzen sind), das Haus gehört nicht (mehr) der Stadt oder dem Staat sondern einem skandalumwitterten Immobilienkonzern und Neubaus Bezirksvertretung wird von den Grünen angeführt im Gegensatz zu Ottakring, wo sich Politik-Polizei-Medien-Verflechtungen offenbart haben, wie sie viele wohl kaum (noch) für möglich gehalten hätten. Doch hier geht es um Altbauten auf einem Grundstück mit Millionenwert in einer der städtischen Schutzzonen zur Erhaltung des Stadtbildes.

Das Gebäude Lindengasse 62 stammt aus der Biedermeierzeit und ist ebenso wie die anderen beiden Gebäude weder einsturzgefährdet noch baufällig oder sonst irgendwie gefährlich. Im Gegenteil: Noch bis vor ein bis zwei Jahren war im innen gut ausgebauten Gebäude Lindengasse 62 die "Neue Sentimental Film" untergebracht - ein Nachmieter wurde bezeichnenderweise wegen zu hoher Mietforderungen des vorherigen Eigentümers nicht gefunden. Dieser verkaufte schließlich an die BUWOG - die das Haus nun ohne jeden Anlass (außer der Profitinteressen - denn Strom, Wasser und sogar die Heizung funktionieren, das Haus ist weder baufällig, abrissreif noch sonst irgendwie gefährlich, wie ein Architekt und ein Statiker, die am 24.10. das Haus begutachteten, bestätigt haben - was willfährige Propaganda-Dreckschleudern wie die Gratiszeitung "Heute" freilich nicht davon abhält, gegen das Haus zu kampagnisieren) abreißen will und mit den Bezirksgrünen scheinbar auch schon einen Modus gefunden hat, wie dies vonstatten gehen soll: Ein kleiner Teil des Grundstücks an der Kreuzung Zieglergasse/Lindengasse soll als "öffentlicher Park" genutzt werden - ein "Verhandlungserfolg" der Grünen, der Millionenprofite für die BUWOG auf diesem Grundstück erst möglich macht - was ohne den Abriss der schutzwürdigen und gut erhaltenen Gebäude (die IG Denkmalschutz protestierte bereits im Jänner 2011 mit einem offenen Brief) nicht möglich wäre. Für einen Abriss der Gebäude wäre jedenfalls ein Bescheid der (grünen!) Bezirksbehörde nötig, der allem Anschein nach noch nicht ausgestellt wurde, wodurch den Grünen die entscheidende Verhandlungsposition zwischen BesetzerInnen und BUWOG zukommen könnte. Noch nie lag es so sehr an den Grünen, ob eine Zwischennutzung eines leerstehenden Hauses für längere Zeit möglich wird oder ob das seit Jahren andauernde Katz-und-Maus-Spiel in der Stadt der leeren Häuser mit einem weiteren kostspieligen Einsatz der Polizei-Spezialeinheit WEGA fortgesetzt wird.

Wiener Gemütlichkeit statt Wut an der 15. Oktober-Demo

Nicht ganz zufällig fand die Besetzung - die am 14. Oktober gegen 18 Uhr via Indymedia öffentlich bekannt gemacht wurde - am Vorabend der internationalen Proteste im Zeichen der "Occupy"-Bewegung statt, im Zeichen derer auch in Wien zur Demonstration aufgerufen wurde. Wie jedoch zu erwarten war dominierte die Wiener Gemütlichkeit - "Wutbürger/innen" sehen anders aus. Woanders jedenfalls. Immerhin 2.500 Menschen kamen - aber gingen auch relativ rasch, als zwischen Ankunft am Heldenplatz gegen 17 Uhr und Schlusskundgebung um 19 Uhr eine große Lücke klaffte und ohnehin absehbar war, dass außer verschiedenen Bekehrungsversuchen durch die üblichen - sowie einige weitere - Gruppierungen und Organisationen nicht mehr viel passieren wird. Dem war dann auch so.

Daher hat man das Haus auch schon am Vorabend besetzt - damit die Stube schon vorgewärmt ist für jene, die zwar nicht am Heldenplatz ausharren oder gar campieren wollen, aber auch nicht einfach nach Hause (in die "eigenen vier Wände", wie man so "schön" sagt) gehen wollten, wie das leider sonst immer der Fall ist bei Demonstrationen in Wien. Und da Zeltlager im kontinentaleuropäischen Winter nur etwas für ganz hartgesottene oder Wahnsinnige sind, ist die Besetzung eines Hauses, das viel Platz für Treffen und andere gemeinsame Aktivitäten bietet, eine gar nicht so abwegige Idee. Lediglich Anonymous Austria empfand die Hausbesetzung als "Missbrauch" der #Occupy-Bewegung - wie das denn nun zu verstehen sei, diese Antwort blieben sie trotz dutzendfacher Nachfrage auf Twitter schuldig.

Von "Eigentum" und "Besitz" - wie gerechtfertigt ist eine Haus-"Besetzung"?

Wie ein schöner, unerwartet tiefsinniger Spontan-Vortrag nach Ende des "Tanz durch den Tag"-Programms am Sonntag (23.10.) ausführte, beginnt das große "Missverständnis" von der Auffassung unseres Lebens als "freie", konsumierende Menschen schon mit den Begriffen von "Eigentum" und "Besitz", die sich sprachwissenschaftlich ebenso schön zerlegen und auf ihre lateinischen, altgriechischen oder althochdeutschen Wurzeln zurückführen lassen, wie Begriffe wie das "Subjekt" (--> "Unterworfene") oder die "Person" (--> "Maske"). Ohne näher auf die äußerst interessanten Ausführungen zur Sprache als steuerbares und gesteuertes Machtinstrument eingehen zu können (dazu fehlt mir schlicht die Expertise; eine Auseinandersetzung damit lohnt sich jedenfalls!) sei festgehalten, wie sehr sich unsere Weltanschauung doch durch derart geprägte Begriffe definiert - und wie sehr wir von der einen Minute auf die andere Dinge ganz anders wahrnehmen können, wenn wir bloß die Wörter, die wir verwenden, hinterfragen und auf ihre ursprünglichen Bedeutungen zurückführen. So kommt "Besitz" natürlich von "besitzen", bezeichnet also jene Dinge, die man tatsächlich benützt, gebraucht oder im wahrsten Sinne des Wortes be-sitzt, be-liegt oder was auch immer ... Ein leerstehendes Haus gehört - wenn man von den künstlichen Identitäten der "juristischen Person" und dem davon abgeleiteten "Eigentum" absieht - in Wahrheit niemandem. Erst wenn Menschen das "Objekt" mit Leben erfüllen hat es wieder "Be-sitzer".

Systematische Zerstörung von Altbauten in Wien - alle machen es

Ein gut erhaltenes altes Haus mutwillig unbewohnbar zu machen - etwa durch das künstliche Herbeiführen von Wasserschäden, die die Bausubstanz schädigen und das Haus mit Schimmel überwuchern lassen (so wie das "Wiener Wohnen" beim Lobmeyr-Hof gemacht hat) oder indirekt durch das nicht-abstellen der Wasserleitungen vor dem Wintereinbruch, was nach den ersten Frosttagen unausweichlich zu Wasserrohrbrüchen und ebenfalls Wasserschaden führt (laut einem Statiker, der heute das Haus begutachtet hat, gängige Praxis bei Altbauten in Wien, wenn profitorientierte Eigentümer eine Begründung für die Abbruchbewilligung brauchen um lukrativere Neubauprojekte zu ermöglichen) ist jener Umgang mit dem knappen Wohn- und Lebensraum in Großstädten, den Immobiliengesellschaften wie die BUWOG, aber auch die Stadt Wien selbst, systematisch an den Tag legen - bloß um Gründe für den Abriss vorweisen zu können. Zumindest dieses Mal kamen die Besetzer/innen den Eigentümern zuvor.

Alle bleiben

Was in diesem Ausmaß nicht vorhersehbar war trat ein: Noch am Abend der offiziellen Besetzung (FR, 14.10.) pilgerten hunderte - schätzungsweise insgesamt an die 700 bis 800 Personen insgesamt - in die Lindengasse, die nur einen Pflastersteinwurf von Mariahilfer Straße, Westbahnhof, Gürtel und Neubaugasse entfernt im eigentlichen Herzen Wiens liegt ;). Bis zu ca. 400 Personen gleichzeitig belebten das Areal in den Nachtstunden - es herrschte eine Stimmung vor, die eher an die Audimax-Besetzung 2009 als an frühere Hausbesetzungen erinnerte. In mehreren Räumen wurde - jeweils umgeben von dutzenden enthusiasierten ZuhörerInnen - musiziert, es gab ein stundenlanges Hip Hop/Reggae-Jam, aus diversen Soundanlagen tönte elektronische Tanzmusik oder auch Punk, Kerzenschein und provisorische Lichtinstallationen prägten das Bild - im Hof gab es eine Feuer-Jonglage-Show. Kurzum: Allen war von Anfang an klar, dass hier ein neuer großer Freiraum für Alle eröffnet wurde - und machten auch sofort davon Gebrauch. So auch die ersten Graffiti-Artists, die einen tagelangen Spray-Marathon begannen und dem Haus so von Tag zu Tag ein immer anderes Erscheinungsbild zu geben.

Auch am Samstag sah es nicht viel anders aus - bloß eine Spur kleiner, was aber immer noch mehrere hundert Menschen bedeutet. Am Sonntag wurden erste Barrikaden gebaut, doch eine Räumung blieb aus. Ab da - mit Beginn der neuen Woche - gab es kein Halten mehr. Auf dem gesamten Areal stürzten sich Menschen in verschiedene Arbeiten und Projekte, die im Laufe der Woche aufgebaut wurden. Eine Übersicht sucht man am besten im Blog der Besetzung, http://epizentrum.noblogs.org - ein Ergebnis der Mediengruppe, die sich dank ausreichend vorhandener Infrastruktur rasch im Herzen des Gebäudes eingenistet hat - und nach mehrmaligem Übersiedelungen nun direkt neben Volxküche, Freie Universität Wien und Wohnzimmer situiert ist. Doch die Raumaufteilung ändert sich laufend - der ehemalige (viel zu kleine) Medienraum ist nun das Vokü-Lager ... das Wohnzimmer war zuvor Versuchsstation eines expressionistischen Künstlers, der jedoch nach Scheitern seines Projekts (einer Kunstinstallation unter Verwendung von Beton, der keiner war) nicht mehr gesehen wurde.

Feste feiern wie sie fallen

Es wäre zu viel, hier nun auf alle Initiativen, Ereignisse, Räume usw. einzugehen - ich verweise erneut auf den hervorragend betreuten Blog ;) - aber Highlights und in dieser Art einzigartig in der jüngeren Hausbesetzungsgeschichte von Wien waren definitiv die Errichtung einer Bar, die sich durch freie Spenden von Konzert- und PartybesucherInnen finanziert, und in weiterer Folge die Soli-Party des Lastenrad-Kollektivs (mit Besuch von CriticalMass), die mit Konzerten, Soli-Cocktail-Bar und Glühmost aufwartete - respektive der Tekkno-Party, die im Anschluss Haus & Hof nicht mehr zur Ruhe kommen ließ. Schätzungen gehen von über 1.000 BesucherInnen an diesem Abend aus. Genau deswegen (u.a.) wurde der darauffolgende Samstag zum Ruhetag erklärt - zum einen aus Rücksicht auf die Nachbarn, zu denen ein gutes Verhältnis aufrecht erhalten werden soll, zum anderen auch ob der suboptimalen Begleiterscheinungen derartig großer Feste, die auch Unannehmlichkeiten und Stress mit sich bringen. Und schließlich um zu reflektieren, wie man mit all dem am besten umgeht, Stress vorbeugt und das nötige Verantwortungsgefühl im Umgang mit Haus und BewohnerInnen bei den BesucherInnen erwecken kann.

Bereits am Tag darauf, Sonntag, gab es mit dem Programm von "Tanz durch den Tag" ab 12 Uhr Gelegenheit, die Lehren dieser Erfahrungen anzuwenden. So war etwa von Anfang an klar, das um 22 Uhr - dann ohnehin nach schon zehn Stunden - die Party zu Ende sein muss - was offenbar auch gut kommuniziert wurde und vom Publikum erstaunlich gut angenommen wurde, das nach Abdrehen der Musik laut jubelte und klatschte. Die Tekkno-Party am Freitag musste ja am frühen morgen etwas abrupter beendet werden, was bei DJs wie Publikum gleichermaßen Unverständnis hervorrief.

Zum Abschluss noch ein paar Eindrücke aus dem Haus. Ein Pressespiegel findet sich ebenfalls im Blog des Epizentrums, hier sei lediglich noch auf einen Beitrag samt Interview-Mitschnitt (vom 24.10.) von Radio Orange auf nochrichten.net verwiesen.




Freitag, 23. September 2011

Zürich blickt drittem Krawall-Wochenende entgegen

[letztes Update: 24.9. (Fotos, Links)]
Nach zwei Krawall-Wochenenden, die am Schluss nur noch wenig mit der eigentlichen Idee eines RTS ("Reclaim the Streets", unangemeldeter Party-Umzug im öffentlichen urbanen Raum) zu tun hatten, blickt die ganze Stadt nun gespannt dem dritten Wochenende nach Ausbruch der Jugendunruhen (wohl die passendere Bezeichnung) entgegen.

Ich befinde mich mittlerweile vor Ort in Zürich und habe bereits mit einigen Augenzeugen bzw. Anwesenden der Krawalle gesprochen. Hierbei wird eine immer größere Diskrepanz zur Medienberichterstattung, Politik- und Polizeipropaganda offensichtlich. Während Politik, Polizei und Medien überwiegend "Hooligans" und "Linksautonomen" die Schuld an den Krawallen zuschieben - zugegeben mit einem gewissen Vorbehalt, so hat etwa der Tages-Anzeiger zu seinem "Erstaunen" festgestellt, dass letzten Samstag "kein schwarzer Block" an den Unruhen zu sehen war - zeichnet sich nach Angaben von Anwesenden und Augenzeugen ein ganz anderes Bild.

Nach aktuellem Stand der Nachforschungen dürfte die erste Party am Bellevue, zu der am Samstag den 10. September 1.000 bis 2.000 Menschen erschienen, noch tatsächlich in direkter Verbindung zur polizeilichen Auflösung illegaler Partys in und um Zürich in den Wochen davor gestanden sein. Es gab Musik und DJs, nach Provokationen von beiden Seiten eskalierte die Lage, kaum jemand wusste, was vor sich geht, und einige begannen zu randalieren, während der Rest zuschaute oder abhaute.

mit diesen schweren Betonstücken wurde vom Hirschengraben aus der am Central positionierte Wasserwerfer aus knapp 10 Metern Höhe beworfen - das gepanzerte Fahrzeug blieb laut Augenzeugen unbeschädigt. Auch weitere Spuren (Fotos auf flickr) waren 6 Tage nach dem jüngsten Krawall noch zu finden.

Die daraufhin für den nächsten Samtag (17.9.) angekündigte Party (RTS) am Central wurde aufgrund der großen öffentlichen Aufmerksamkeit und dem "leak" der Ketten-SMS spontan und ohne Vorab-Information der Medienöffentlichkeit auf Freitag (16.9.) vorverlegt (siehe folgender Abschnitt) und erreichte etwa 200 bis 400 Personen. Was dann am Samstag, 17.9., geschah, hatte im Grunde gar nichts mehr mit dem auf den Vortag vorverlegten RTS zu tun. Es kamen nur noch jene, die durch SMS und Medien vom angekündigten Krawall erfahren haben und in der Erwartung eines solchen zum Hauptbahnhof/Central kamen (vgl. auch Tages-Anzeiger, 19.9.: "Sie kamen, um zu prügeln"). Diese Leute werden von Augenzeugen als überwiegend unpolitische Jugendliche beschrieben, die Frust ablassen oder sich mit der Polizei messen wollten. Nun blickt die ganze Stadt gespannt auf morgen Samstag, ob es erneut zu Krawallen kommen wird. Daher noch einmal ein aktualisierter Rückblick auf die Ereignisse der letzten beiden Wochenenden.

die "linke Szene" und die Party

Die sogenannte "linke Szene" hielt sich den Samstags-Krawallen (10.9, 17.9.) überwiegend fern (daher ist es auch überflüssig, den Begriff "linke Szene" konkreter auszudifferenzieren). Sie war lediglich am spontan vorverlegten Freitags-RTS (16.9.) beteiligt, wo es jedoch bis kurz vor Schluss keine Ausschreitungen gab, da von Seiten der Organisatoren (die vermutlich aus der "illegalen Partyszene", die in der Umgebung von Zürich regelmäßig unangemeldete Partys organisiert) und Teilnehmenden kein Interesse daran bestand: die Idee eines RTS ist ja eigentlich, den öffentlichen Raum friedlich durch eine Party "zurückzuerobern". Zu Krawallen kommt es meistens nur dann, wenn die Polizei gewaltsam die Menge aufzulösen versucht. Da die Polizei letzten Freitag die 200 bis 400 Personen am Helvetiaplatz zunächst in Ruhe feiern ließ und auch nicht einschritt, als die Menge Richtung Stauffacher/Langstrasse zog, gab es auch vonseiten der RTS-TeilnehmerInnen keine Aggressionen.

Um auch gegen Ende des RTS die Lage ruhig zu halten, wollten die RTS-Teilnehmenden gegen Mitternacht ein bereits vor einer Weile für mehrere Monate besetztes Haus am Stauffacher erneut (für eine Nacht -> Sauvage) besetzen, das sich bereits aus seiner Besetzungs-Zeit stadtweit einen Ruf als "Party-Location" verschafft hat. Die Polizei - möglicherweise in der Annahme, die Menge wolle in die Innenstadt/Paradeplatz (Sitz der Banken) ziehen - versperrte jedoch die Straße und begann, als die Menge die Sperre über eine Seitenstraße umgehen wollte, mit Gummischrot und Tränengas zu schießen. Die Menge löste sich daraufhin teilweise auf, versammelte sich jedoch neu und zog friedlich zur Langstrasse weiter (alles weitere, siehe letzter Blog-Eintrag).

Hätte man die Jugendlichen ins leerstehende Haus ziehen lassen, um dort abseits der kommerziellen (teurer Eintritt, teure Getränke) und exklusiven (im Sinne von ausschließend --> Türsteher, rassistische und lookistische Türpolitik) Bars und Clubs weiterzufeiern, hätte es wohl auch keine Ausschreitungen gegeben.

mehr Respekt vor der Polizei durch Willkür, Rassismus und Einschüchterung?

Am nächsten Tag (Samstag, 17.9.) gab es dann die Gegendemo zur "Lebensschützer"-Demo christlicher Fundamentalisten, wo es ebenfalls zum Einsatz von Gummischrot und Tränengas gab, was nach Ansicht einiger TeilnehmerInnen vollkommen überzogen und überflüssig war. Die Polizei, angetrieben von ihrer eigenen Unwissenheit darüber, was tatsächlich vorgeht und in dieser Konfusion bestätigt durch verblendende und verhetzende Medienartikel und Politiker-Statements, war wohl bereits zu nervös und unsicher und schritt "präventiv" repressiv ein.

An dieser Stelle muss ausnahmsweise auch mal auf die Gemütslage der PolizistInnen eingegangen werden. Die Stimmung ist wenig überraschend ziemlich unten - von allen Seiten kommt Kritik, die entweder nach mehr Gewalt oder mehr Zurückhaltung ruft. Einen Mittelweg zu finden ist schwierig, zumal in den letzten Monaten und Jahren schon viel Porzellan zerschlagen worden ist. Vor allem die Jugendlichen aus den innerstädtischen ArbeiterInnen-Quartieren links und rechts der Langstraße, die Mehrheit von ihnen mit Migrationshintergrund, nimmt der Polizei die nicht nur rassistischen sondern meist auch willkürlichen und häufig unnötig brutalen Personenkontrollen übel.

Diese Personenkontrollen wurden insbesondere ab 2010 forciert, in einer Aktion namens "Respekt" - womit gemeint war, dass die Jugend mehr Respekt vor der Polizei gewinnen soll (daher wohl auch die Willkürlichkeit und Brutalität, in der Annahme, dadurch Respekt (durch Angst) herstellen zu können). Diese psychologisch in jeder Hinsicht vollkommen widersinnige Annahme konnte nur kontraproduktiven Effekt haben: Es kam bereits 2010 zu einer großen RTS, die die Polizei völlig überraschte und die Bahnhofstraße verwüstete (was nicht unbedingt beabsichtigt war, jedenfalls nicht von jenen, die RTS organisieren und das Soundsystem zur Verfügung stellen). Die Gegend, die unmittelbar an den Hauptbahnhof und seine teueren Büro- und Einkaufsviertel angrenzt, ist zudem seit Jahren Zielgegenstand diverser "Aufwertungs"-Bestrebungen, sprich Gentrifizierung, die auf Kosten (im doppelten Sinn) der bisherigen Bevölkerung geht.

Es zeigte sich jedoch, dass bei der Jugend keineswegs mehr Respekt erzeugt werden konnte, nach heftiger, wochenlanger Kritik durch Medien und Opposition musste die damalige Polizeivorsteherin zurücktreten - sie wurde durch den Grünen Daniel Leupi ersetzt.

Hoffnungen, dass dadurch eine umsichtigere Polizeipolitik zustande kommt, wurden jedoch rasch enttäuscht. Leupi machte zunächst durch verstärkte RadfahrerInnen-Kontrollen auf sich aufmerksam (wohl in jenem opportunistischen Reflex, sich als Grüner nicht als voreingenommen und parteiisch abstempeln zu lassen). Im selben Reflex dürfte auch die Fortführung rassistischer Kontrollen im Dienste der Gentrifizierung im Langstrassen-Quartier erfolgt sein. Zudem fielen in seine Amtszeit die schikanösen Kontrollen von AsylantInnen vor der Autonomen Schule (ASZ), wo BesucherInnen kostenloser Deutschkurse beim Verlassen des Gebäudes abgefangen und teilweise mitgenommen, eingesperrt und abgeschoben wurden. Es wird vermutet, dass sich Teile der Polizei dabei bewusst Anordnungen der Spitze widersetzten, zumal Leupi sich selbst nicht begeistert von derartigen Razzien zeigte.

Dazu muss man auch wissen, dass AsylantInnen in Zürich lediglich mit bescheidenen Migros-Gutscheinen "versorgt" werden, mit denen man weder Busfahren noch sonst irgendetwas machen kann, was es nicht im Migros-Supermarkt gibt. Aus diesem Grund gibt es auch Initiativen, die Migros-Gutscheine gegen Bargeld tauschen und kostenlose Deutschkurse in der ASZ. Diese zivilgesellschaftlichen Initiativen, die im Gegensatz zum Staat auch hilfesuchende Flüchtlinge als Menschen betrachten, wurden vom Staat nicht nur nicht unterstützt sondern durch derartige Polizei-Schikanen auch noch torpediert.

All dies - Polizeiwillkür und -gewalt bei ethnischen Personenkontrollen, Torpedierung zivilen Engagements für stigmatisierte Flüchtlinge, Markierung einer "Law-and-Order"-Politik im öffentlichen Raum und brachiales Durchgreifen bei unangemeldeten Partys, Kundgebungen und Demonstrationen - ist die Grundlage für jenen "mangelnden Respekt", den die Polizei und die Politik nun beklagt, aber genau durch jene "respektfördernden" Maßnahmen erzeugt wurde, wie sie nun im Unwillen zum Erkenntnisgewinn erneut gefordert werden ...

Stadt militärisch besetzen?

Sprichwörtlich den Vogel abgeschossen hat aber die FDP - die Freisinnigen, wie sie sich selbst nennen, oder frei von allen Sinnen, wie wohl die korrektere Ausformulierung ihres Parteikürzels wäre. Diese fantasieren "Londoner Zustände" herbei, weil im Stadtzentrum an zwei Wochenenden in Folge mehrere hundert PolizistInnen und Jugendliche randalierten, und träumen bereits von einer weiteren Eskalation, in der Sorge, dass die Gewaltspirale nachlassen könnte und ihre Forderung nach mehr Polizei und Überwachung dadurch auch weiterhin keine Mehrheit finden kann. Daher ruft die FDP nach dem Ausnahmezustand für Zürich, denn nur in diesem könnte tatsächlich die Schweizer Armee Zürich besetzen, so wie die FDP es wünscht. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, ist zu befürchten, dass sich am kommenden Wochenende FDP-Politiker vermummen und als Provokateure unter die Jugendlichen mischen. Noch wahrscheinlicher ist es jedoch, dass die FDP für diese "Drecksarbeit" Jugendliche bezahlt, die im Dienste der FDP dafür sorgt, FDP-Forderungen nach Polizei- und Überwachungsstaat und Abschaffung staatlicher Sozialleistungen nach britischem Vorbild zu einer Mehrheit zu verschaffen. Klingt absurd? Ich denke nicht. Wer unter gegenwärtigen Zu- und Umständen ohne jegliche Ursachenforschung begeistert nach einer militärischen Besetzung von Zürich ruft, der muss wohl als geistig eingeschränkt leistungsfähig bezeichnet werden und ergo muss solchen Menschen, die zwanghaft jedes Ereignis ins eigene Weltbild zu pressen versuchen, jede Wahnsinnstat zugetraut werden.

Vom Stolz, vor Krawallen geflüchtete Menschen "erwischt" zu haben

SVP-Stadtpolitiker Mauro Tuena (der Toni Mahdalik von Zürich) ist gegen eine militärische Besetzung ("Nein, nein, nein: Es braucht keine Armee." zitiert ihn Blick am Abend, 22.9.2011, S. 10), denn, so seine Überzeugung: "Die Polizei macht eine ausgezeichnete Arbeit, sonst hätte sie nicht so viele verhaftet."

Diese Aussage ist derart dummdreist, dass man vermuten muss, Tuena wisse um die wahren Umstände der Verhaftungen - im Gegensatz zu den Medienberichten, die unkritisch Polizeiaussagen wiedergeben - Bescheid. Denn von den nach offiziellen Angaben 91 Verhafteten (25 davon unter 18, weitere 3 unter 15 Jahren alt / 76 Schweizer Staatsbürger, insgesamt 3/4 der 91 "Verdächtigen" aus Stadt oder Kanton Zürich) sind vermutlich deutlich mehr als die Hälfte Unschuldige. Sie wurden von der Polizei gegen Ende der letzten Krawallnacht regelrecht eingesammelt, viele sogar mit Gummischrot zusammengetrieben und dann ins Gefängnis verfrachtet. Darunter zum Beispiel sieben Mädchen, die gemeinsam in der Zelle saßen. Vier davon waren eine Gruppe Freundinnen, die gegen 1 Uhr Nacht, als es um das Central (vermeintlich?) bereits ruhig war, ihr Lokal im Niederdorf verlassen haben und nach Hause gehen wollten. Sie wurden von einem Polizeikordon überrascht, der mit großem Abstand offenbar einer Gruppe männlicher Jugendlicher auf den Fersen war - die Mädchen flohen über den Limmatsteg auf den Platzspitz. Dort hatten sich viele Menschen vor den Krawallen zurückgezogen, im Glauben, dort sicher zu sein. Doch wenig später räumte die Polizei den Park und setzte dabei Gummischrot gegen all jene ein, die davon liefen. Also blieben die Mädchen stehen und ließen sich widerstandslos verhaften. Mit ihnen wurden rund 40 weitere Personen verhaftet. Das war die größte Verhaftungs-Welle jener Nacht, auf die rechte Politiker wie Mauro Tuena nun so stolz sind.

Zu Besuch im Mädchenknast - wer Dreads hat, bleibt hier

Die anderen drei Mädchen, mit denen die Freundinnen dann in die Mädchenabteilung eines Gefangenenhauses gebracht wurden, schienen ebenfalls unbeteiligt zu sein. Zwei der Mädchen dürften ebenfalls im Ausgang gewesen sein, eine von ihnen sprach französisch und war offenbar in Zürich zu Besuch. Sie wurde von ihrem Freund getrennt, wusste nicht, was man ihr vorwirft und war ziemlich aufgelöst. Das siebte Mädchen im Mädchenknast zählte zu einer Gruppe "Hippies", die im Platzspitz-Park am chillen waren. Sie hatte Dreadlocks und wurde von der Polizei als erste zum Verhör vorgeladen. Sie dürfte auch das einzige Mädchen gewesen sein, das auch nach 12 Stunden U-Haft nicht freigelassen wurde.

Dieses Vorgehen bei den Mädchen lässt nichts gutes zu den Vorgängen bei den Burschen erahnen. Wer verdächtig aussieht, wird wohl als schuldig befunden. Inwiefern Beweise bei der Verurteilung der Jugendlichen noch eine Rolle spielen, ist fraglich. Laut Medienberichten wurden nach 12 bis 24 Stunden U-Haft 43 Personen wieder entlassen (48 mussten weiter in U-Haft bleiben und wurden von zehn "Sonderstaatsanwälten" verhört), nach zwei Tagen dürften immer noch etwa 20 im Knast gesessen haben. Die Zahl der Anzeigen dürfte aber höher liegen.

das dritte Wochenende

Es kursieren Gerüchte, die auch für diesen Samstag keine friedliche Nacht erahnen lassen. FMO wird versuchen, die Ereignisse dieses Mal aus nächster Nähe zu dokumentieren, wobei das brutale, willkürliche und vor allem rücksichtslose Vorgehen der Polizei auch gegenüber offensichtlich Unbeteiligten zu großer Vorsicht ermahnt. Ohnehin sind unabhängige Blogger/Fotografen/Journalisten bei Polizeiaktionen nicht gern gesehen, anders als in Wien wird die unabhängige Presse hier nicht nur eingeschüchtert und behindert, es wird sogar davor gewarnt, dass die Polizei Kameras beschießt bzw. bei Verhaftung entwendet und "verschwinden" lässt... Mal sehen, was sich tun lässt ...

Sonntag, 18. September 2011

Krawallwochenende in Zürich - Stauffacher/Langstrasse, Helvetiaplatz, Central - 16./17. September 2011

Eine Woche nach den RTS-Krawallen am Bellevue vom 10. auf den 11. September (FMO berichtete) kommt es, wie nach dem Aufruf zur neuerlichen Straßenparty in Ketten-SMS seit letztem Sonntag zu befürchten war, erneut zu Krawallen. Dass es gleich drei werden würden, war jedoch nicht abzusehen.

"Polizei verhindert illegale Party am Central" titelt erfreut die Online-Ausgabe des Blick. Dass dafür vermutlich über 1.000 hochgerüstete PolizistInnen eingesetzt werden mussten, massenhaft Tränengas und Gummischrot verschossen wurde, dutzende Personen verletzt wurden, das Herz der Stadt, direkt vor einem der höchst frequentierten Bahnhöfe Europas, zwischen 23:45 und 3 Uhr früh eher einem Schlachtfeld glich, ist natürlich vernachlässigbar angesichts des herausragenden Erfolgs der vereinigten Schweizer Polizeikräfte gegen Jugendliche aus Zürich, die ihre Party nicht anmelden wollten.

Das vergangene Wochenende im Rückblick:

Freitag, 16.9. - Vorverlegte RTS am Helvetiaplatz, Krawalle am Stauffacher

Bereits am Vorabend des Samstags, 17. September, für den gegen 23:30 Uhr zur Party am Central aufgerufen war, versammelten sich rund 200-400 Leute (bei strömendem Regen) bei der Unterführung am Helvetiaplatz um mit eigener Anlage und DJs eine Alternative zum kommerziellen, ruionös teuren, Party-Treiben in den Clubs und Lokalen der Stadt anzubieten.

Die Polizei war nicht uninformiert, hielt sich aber vorerst im Hintergrund und ließ die Party, die ohnehin auf einem für den Verkehr gesperrten Platz stattfand, gewähren. Gegen Mitternacht setzte sich das mobile Soundsystem samt Anhängerschaft Richtung Stauffacher, wo ein Haus (zur Sauvage, also zum weiterfeiern) besetzt werden sollte, in Bewegung. Die Polizei versperrte jedoch den Platz. Als die Demonstrierenden über eine Seitenstraße ausweichen wollten, wurden sie umgehend mit Gummischrot und Tränengas eingedeckt, der Wasserwerfer wurde eingesetzt. Die Angegriffenen schleuderten Flaschen und andere Gegenstände zurück, zerstreute sich, formierte sich aber bald unweit der Langstrasse (Ausgehmeile und Zentrum zweier ehemaliger ArbeiterInnen-Bezirke, heute mehrheitlich von MigrantInnen bewohnt) wieder.

Tanzend zog die Menge nun in die Langstrasse, wo zahlreiche Schaulustige auf die Straßen strömten - die Polizei hielt sich zurück, zumal die Polizei in dem Quartier keinen guten Ruf genießt. Eine eigene Kampagne der Polizei kümmerte sich letztes Jahr darum, die Straßen "sauber" zu halten - gemeint sind willkürliche Kontrollen an Passanten "mit Migrationshintergrund", wie man "so schön" sagt.

Als die Demo schließlich in die Militärstrasse einbog um Richtung Kasernen-Areal (ehemalige Kaserne) zu ziehen, kam es vor dem dort gelegenen Polizeiposten zur finalen Auseinandersetzung: die Polizei setzte die üblichen Waffen ein, während DemonstrantInnen Müllcontainer und anderes Zeugs auf die Straßen warfen und anzündeten. Zwischen 2 und 3 Uhr waren die Krawalle beendet.

Samstag, 17.9. - Krawalle am Rande von Anti-Abtreibungs-Demo christlicher Fundis

Die Polizei verhinderte am Nachmittag unter großer Gewaltanwendung, dass die vom Revolutionären Bündnis Zürich getragene Gegendemo zur Anti-Abtreibungs-Demo durchbrechen konnte. Protestierende lieferten sich eine Straßenschlacht mit der Polizei. Alles weitere im Tages-Anzeiger, andere Infos liegen leider nicht vor.

Samstag, 17.9. - Reclaim the Streets am Central fällt Polizeiblockade zum Opfer - trotzdem Krawalle

Eigentlich hätten sich um 23:30 Uhr hunderte, wenn nicht tausende, Menschen zur RTS am Central treffen sollen. Doch zum einen regnete es erneut teils heftig, zum anderen glich das Zürcher Stadtzentrum einem Sperrgebiet. Das gesamte Areal zwischen Stampfenbachstrasse, Niederdorf, Hauptbahnhof und Bahnhofstrasse war von hunderten PolizistInnen besetzt - die sich jedoch zunächst in Seitenstrassen "versteckten". Laut Augenzeugen waren die in der Bahnhofshalle eingesetzten Cops eigens aus der französischsprachigen Schweiz zugezogen worden. Über die Zahl der eingesetzten Beamten gibt die Zürcher Polizei allerdings nie Auskunft.

Im Hauptbahnhof hatten sich bereits hunderte Menschen versammelt. Als sich mehrere Personen vermummten griff die Polizei das erste Mal ein: Festnahmen.

Die Menge zog zum Central und wurde durchgelassen. Doch bevor dort die Party losgehen konnte wurde binnen weniger Minuten ein Kessel erzeugt - die ersten Böller wurden Richtung Polizei geworfen und es passiert, was in so einem Fall in Zürich immer passiert: Gummischrot, Tränengas, Pfefferspray, Wasserwerfer ... Zusätzlich waren viele Polizisten in zivil eingesetzt, einige auch als sogenannte "Chaoten-Zivis", die aussehen sollen wie autonome Demonstranten (Rucksack, Kapuzenpulli etc.) und als "Greifer" Leute aus der Menge ziehen (ähnliche Bilder kennt man etwa aus Barcelona, wo im Umfeld der friedlichen Massenproteste am 15. Juni d.J. einige eingeschleuste Provokateure entlarvt und vertrieben wurden). Auch aus Zürich gibt es Videos von optisch möglichst angepassten Zivi-Cops, die Leute aus der Menge heraus verhaften, wie etwa regelmäßig am 1. Mai. Das treibt dann mitunter auch skurrile "Blüten", wie etwa dieses Video zeigt.

Mit Gewaltorgie zum Orgasmus? StaPo testet ihre neueste Lustinnovation.

Erneut kamen bei der Gewaltorgie der Polizei viele Unbeteiligte zum Handkuss: Diesmal wurde gleich das ganze Areal um den Hauptbahnhof in Trängengas gehüllt, im unterirdischen "Shopville", das unter dem Hauptbahnhof als Verbindung zur Bahnhofstrasse sowie als Shoppingcenter dient, hingen ebenfalls Schwaden von Tränengas. Oberirdisch wurden die rund 500 bis 700 Partywilligen zum Hauptbahnhof zurückgetrieben (sogar im Tages-Anzeiger steht im Bildtext: "Die Polizei trieb die Menge erst zum Central, anschliessend wieder zurück zum Hauptbahnhof."), in dessen Umgebung sich die Krawalle nun abspielten. Auch in der Altstadt, dem Niederdorf, soll es Auseinandersetzungen gegeben haben. Berichte darüber liegen (noch) keine vor.

Vom Hirschengraben über dem Central aus, das in einen Hang hineinreicht, wurde die Polizei mit Gegenständen und Baumaterial beworfen. Der Wasserwerfer, der sich nahe der den Hang abstützenden Mauer befand, wurde aus knapp 10 Metern Höhe mit kiloschweren Steinplatten beworfen - das Fahrzeug blieb unverletzt.

Der Weg zur Bahnhofstrasse - als teuerste Einkaufsstrasse der Schweiz auch das beliebteste Riot-Areal - wurde von einem Wasserwerfer versperrt. Also tobten sich einige an der Tram-Haltestelle Hauptbahnhof aus, zerstörten die Glasflächen, zündeten Zeitungsständer an, randalierten.

Weitere Angriffe der aufgebrachten Jugendlichen richteten sich gegen ein "ziviles" Polizeifahrzeug (die VW-Bus-Flotte der Zürcher Polizei, die für das Stadtbild prägend ist, ist in den Farbcodes blau, weiß und grau, sind - bis auf ein einziges, abnehmbares Blaulicht am Dach, von außen nicht als Polizeifahrzeuge zu erkennen), welches kurzerhand umgeschmissen wurde (Bilder davon finden sich auf 20min.ch und blick.ch, die freilich nicht von einem Polizeifahrzeug schreiben; nur der Tages-Anzeiger erkennt das Polizeifahrzeug, wie die Bildbeschreibung verrät).

Laut Tages-Anzeiger dauerten die Krawalle bis zumindest drei Uhr früh an, auch danach soll es noch vereinzelt Zwischenfälle gegeben haben. Dass der Versuch, die erschienene Menschenmenge in "Gaffer" und "Chaoten" zu spalten, nicht besonders hilfreich ist, da der Übergang mitunter ein fließender ist, zeigt eine Bemerkung im Tages-Anzeiger-Artikel: "Die Unruhestifter dürften die gleichen gewesen sein wie vergangene Woche, waren jedoch überraschend zahlreich. Die Gaffer glichen weniger den jungen Partygängern von letzter Woche als jenem Publikum, das man normalerweise am 1. Mai antrifft."

Gebt der Zürcher Polizei ein Gummi-MG!

Besonders hässliche Szenen soll es zwischen Hauptbahnhof, Limmatufer und Platzspitz gegeben haben, wo gegen Ende der Krawalle noch ein beliebig wirkender Kessel aufgezogen wurde und die darin gefangenen Menschen mit heftigen Salven aus Gummischrot in die Enge getrieben wurden - laut Augenzeugen waren kaum "Randalierer" oder "Chaoten" darunter, sondern "Gaffer" (Schaulustige) und Nachtschwärmer, die nicht wussten, wie ihnen geschah (Bild 14 in der Tages-Anzeiger Fotoreihe). Mögliches Motiv: Nach nur zwei (!) Verhaftungen am letzten Samstag sucht die Polizei nun (wie schon öfter in der Vergangenheit) durch willkürliche Verhaftungen dem Erfolgsdruck der Opposition und der gesamten Presse gerecht zu werden. Dass dabei jedes Mal dutzende, wenn nicht Hunderte, Zivilisten auf verschiedene Weise direkt mit Polizeigewalt konfrontiert werden, was im besten Fall von vertränten Augen bis - im schlechtesten Fall - gebrochener Nase durch Gummischrot reicht, scheint niemanden zu stören.

öffentliche Meinung - who cares?

Von Verletzten ist wie fast immer in den Medien nichts zu lesen - es müssen einige Dutzend gewesen sein an diesem Wochenende, viele mit blutverschmierten Gesichtern wegen des Gummischrots. Aber auch das ist Teil des perversen Spiels von Polizei, Politik und Medien, das in Zürich schon in den 80er-Jahren gespielt wurde und offenbar auch im Internetzeitalter noch erstaunlich und unwidersprochen gut funktioniert. Die Polizei schießt lieber aus der Distanz, die Leute laufen davon, die Medien schreiben die Presseaussendungen der Polizei ab, statt sich in Krankenhäusern nach den tatsächlichen Verletztenzahlen zu erkundigen (sie würden wohl staunen). Die (rotgrüne) Stadtregierung gibt sich besorgt über Gerüchte von Polizeigewalt, was von der rechten Opposition umso stärker kritisiert wird, da die Polizei selbst das größte Opfer sei und dringen mehr Geld und Personal benötige. Die so jedes Mal aufs neue für dumm verkaufte Öffentlichkeit weiß auch nicht mehr was sie glauben soll - dabei haben sie ohnehin immer nur die selbe Lüge erklärt bekommen. Weder auf Indymedia noch auf Twitter oder in eigenen Blogs bzw. Videoplattformen macht die linke Szene auf derartige Missstände aufmerksam. Hier klafft ein großes Loch, das beispielsweise in Wien (wohl insbesondere seit den Massenprotesten gegen Schwarz-Blau im Jahr 2000, bei denen Mailverteiler eine sehr wichtige Rolle gespielt und somit wohl das Internetzeitalter in der "Zivilgesellschaft" miteingeleitet haben) durch autonome Blogs und Portale wie WienTV.org, nochrichten.net, ichmachpolitik.at, no-racism.net, Indymedia sowie diverse Fotografen (was natürlich immer wieder zu Konflikten führt, andererseits besteht zu den aktivsten meist eine gute vertrauensbasis hinsichtlich Gesichter-nicht-erkennung), die ihre Fotoalben auf flickr oder eigene Blogs stellen, gefüllt wird.

Der Kampf um die öffentliche Meinung wird in Zürich vermutlich von vielen als aussichtslos betrachtet, nur hin und wider finden sich (in der Regel anonyme) Aussendungen auf Indymedia. Andererseits gibt man so der Polizei keinerlei Angriffsfläche, wodurch diese sich nach jedem Krawall wieder splitternackt den Medien und der (rechten) Opposition stellen und den Vorwurf gefallen lassen muss, komplett ahnungslos zu sein - was auch seine Reize hat. Alternative, unabhängige Medienschaffende, zu denen ein Vertrauensverhältnis (insbesondere was den Schutz der Anonymität der AktivistInnen betrifft) besteht und die ohne Verfolgungsdruck Meldungen veröffentlichen können, die Dinge beschreiben, die nur Anwesende gesehen haben können, könnten die Anonymität der AktivistInnen gewährleisten und durch Dokumentation und Veröffentlichung von Polizeigewalt via (etablierter) Medien (die zumindest in größeren Fällen oder bei spektakulären Aufnahmen auf den Zug aufspringen) und einer informiert(er)en Öffentlichkeit Druck auf die Polizei ausüben. Die Polizei wird aus Steuergeldern informiert und es das gute Recht eines jeden, ihr bei der Arbeit gründlich auf die Finger zu schauen.

weitere Links (Auswahl):
-
videoportal.sf.tv: Kurzbericht des Schweizer Fernsehens (das gleiche Video, es handelt sich offenbar um Agenturmaterial (das erklärt auch, warum SF nur 50 Sekunden lang berichtet und das ganze abrupt abwürigt), findet sich unkommentiert auch auf orf.at)
- rjz.ch - Revolutionäre Jugend Zürich: Fight for your Right to Party!
- linksunten.indymedia.org: (Jugend) Unruhen in Zürich (Schweiz)?

Dienstag, 13. September 2011

TierschützerInnen des VGT blockieren Landwirtschaftsministerium

Seit Montag, 12. September, 6 Uhr früh, blockieren 30 bis 40 AktivistInnen des VGT (Verein gegen Tierfabriken) alle Zugänge zum "Lebensministerium", so die Eigendefinition des Landwirtschaftsministeriums, am Stubenring 1. Entgegen voreiliger Meldungen sämtlicher (!) Medien, die schon am frühen Abend die Auflösung der Blockade verkündeten, was bis dato noch nirgends korrigiert wurde, obwohl weiterhin rund 30 Personen vor dem Landwirtschaftsministerium ausharren, wie ein Redakteur von WienTV.org, der vor Ort mit den BesetzerInnen ausharrt, ausrichten lässt (Stand: 13.9., 4 Uhr). Auch LeserInnen-Kommentare, etwa auf derstandard.at, die ebenfalls bezeugen, dass die Blockade nicht aufgelöst wurde, veranlassen keinen Journalisten und keine Journalistin in Österreich zur Änderung der Artikel.

Räumungsversuch scheitert - Blockade überdauert Nacht

Die Polizei hat den Versuch, die Blockade am Nachmittag mit 50 bis 100 WEGA-BeamtInnen aufzulösen, nach einigen Personen abgebrochen (was der ORF-Redakteur offenbar nicht mehr erlebt hat). Ein Seitentor konnte dabei befreit werden, die Feuerwehr installierte einen Holzbanken, um die neuerliche Schließung des Tores zu verhindern. Die übrigen, insbesondere das Haupteingangstor, ist weiterhin mit angeketteten Menschen blockiert. Um den gesamten Eingangsbereich hat die Polizei Sperrgitter aufgebaut, die AktivistInnen befinden sich teils innerhalb (u.a. die Angeketteten), teils außerhalb der Absperrung.

sämtliche Versuche von Polizei und Feuerwehr, die Angeketteten vom Haupttor zu entfernen, scheitern, die Blockade dauert die ganze Nacht über an (Fotos: (c) Martin Juen (oben), VGT (unten))


Die Stimmung unter den BlockiererInnen wird als friedlich und gut beschrieben. Mit einem neuerlichen Räumungsversuch wird vermutlich mit Beginn der Bürozeiten zu rechnen sein.

die einzige kriminelle Organisation ist der Staat ...

Der Protest der TierschützerInnen des VGT, die in den letzten Jahren vor allem aufgrund des aufsehenerregenden Prozesses nach § 278a, dem sogenannten "Mafia-Paragrafen", als "kriminelle Organisation" angeklagt waren und erst vor wenigen Monaten in allen Punkten frei gesprochen wurden. Ihre Existenzen wurden durch die monatelange U-Haft, spektakuläre Razzien inklusive Beschlagnahme von Computern und anderem Privateigentum sowie hohe Gerichtsgebühren und Prozesskosten über mehrere Jahre nahezu vernichtet.

Mit der Kampagne gegen Kastenstandhaltung in der Schweinezucht in Österreich, die seit einigen Wochen läuft und mit einem im Kastenstand eingesperrten VGT-Obmann Martin Balluch bereits Medienaufmerksamkeit erlangte, zeigen die TierschützerInnen, dass sie sich trotz, und wohl auch gerade wegen der großen Bemühungen, sie mundtot zu machen, nicht von ihren Bestrebungen für ein besseres Leben von Mensch und Tier im Einklang mit der Natur nicht abbringen lassen wollen.

Dass ausgerechnet die sich "Lebensministerium" nennende zuständige Behörde diesen Forderungen mit Verweis auf die Gewinnspannen der 8.000 österreichischen Schweinemastbetriebe nichts abgewinnen kann, sollte eigentlich überraschen. Tut es aber nicht. Wir sind gewohnt, dass Profitinteressen einzelner über das Allgemeinwohl gestellt werden. Eine nicht nur schlechte, sondern auch kontraproduktive Angewohnheit.

weiterlesen:
- VGT.at: Landwirtschaftsministerium blockiert weil Kastenstandverbot verweigert
- VGT.at: Weiter Tierschutzblockade: Landwirtschaftsministerium seit 7 Stunden geschlossen
- VGT.at: Seit 10 Stunden Blockade des Landwirtschaftsministeriums
- VGT.at: JETZT: Polizei räumt Tierschutz-Blockade des Landwirtschaftsministeriums
- VGT.at: 14 1/2 Stunden Blockade des Landwirtschaftsministerium nicht gebrochen

weitere Fotos:
- Martin Juen: VGT blockiert Lebensministerium | Wien 12.09.2011

Sonntag, 11. September 2011

Keine Party ist illegal! - RTS am Bellevue endet in Krawallen

[letztes Update: 12. September, 18:30 Uhr]
(Illustration: M. Shlesinger)
[Einschub: Aufgrund der unvermittelten und massiven Gewaltanwendung durch die Polizei (es gab zahlreiche, teils im Gesicht durch Gummischrot (aus nächster Nähe) schwer verletzte, vielfach unbeteiligte Personen) wird bereits die nächste Party in der Innenstadt angekündigt - Medien und Polizei haben bereits von der neuerlichen SMS Wind bekommen. Sie soll nächsten Samstag, 17. September, ab 23:30 Uhr am Central stattfinden! Als "Zeichen, dass auch wir unsere Freiheit haben und uns dafür einsetzen."]

Am Samstag, 10. September 2011, versammeln sich in Zürich
gegen 23 Uhr (Indymedia) über 1.000 Jugendliche (Foto 1, Foto 2) nach Aufruf auf Indymedia (10.9.11 keine Party ist Illegal (RTS)) sowie in SMS-Ketten zu einem Reclaim the Streets am zentralen Bellevue (Foto). "Reclaim the Streets" ist eine urbane Aktionsform, bei der sich Menschen meist zum Anlass einer Party (kurzfristig und eingeschränkt öffentlich angekündigt) den öffentlichen Raum aneignen. Die Idee ist an und für sich friedlich, jedoch kommt es bei Auflösungsversuchen der Polizei gelegentlich zu Ausschreitungen. Auch beim letzten Reclaim the Streets in Zürich (6. Februar 2010, Video) gab es bereits Ausschreitungen, nachdem die Polizei wie gewohnt unmittelbar mit Gummischrot (Video von überraschten Touristinnen ;)) auf die Menge losgegangen sein dürfte.

Dieses Mal soll die Auflösung einer Party (mit Gummischrot in die tanzende Menge) unter der Duttweilerbrücke am 15. Juli sowie die Auflösung einer illegalen Party in einem Wald bei Zürich unmittelbare Auslöser für ein RTS gewesen sein. Auch die "Polizei und Justiz Parade" am Gelände des alten Güterbahnhofs (der durch ein "Polizei- und Justizzentrum" ersetzt werden soll), einer unkommerziellen Gegenveranstaltung zum kommerziellen Massenrave "Streetparade", am 13. August 2011, wurde von der Polizei aufgelöst. Gewaltanwendung gab es hier keine, da die Party vor vollständigem Eintreffen der Riot Police nach drinnen verlegt wurde. Auf Indymedia wird die RTS rund zehn Stunden zuvor angekündigt (vermutlich von anderen und nach dem ersten SMS):

"Da der Staat tag für tag uns in unseren Freiräumen einschränkt und uns jegliches selbstbestimmtes leben nimmt, wollen wir ein zeichen setzten! Gegen Repression und für ein freiwählbares Leben!
ausserdem ist morgen der 11 sept...der tag der schleichenden repression!seit diesem tag werden wir überall bewacht geschnitten und gelenkt!!!wir sind der überzeugung 9/11 was a inside job!!!und diente dem machtapparat einzig und allein zur unterdrückung unserer freiheit und der verstärkung ihrer macht!!!

Genauer Ort: Geheim....da wir ja auch ein wenig party wollen und nicht von beginn weg mit den uniformen tanzen wollen! wer will findet es sicher...fragt rum in der statd!!!für musik pyro und rauch ist gesorgt....nehmt alles mit was es für eine gute party braucht!!!gerne auch Transpis...(haben schon welche aber je mehr desto besser)...alles was laut ist ist toll!!!!megaphone...blockrockers sonstige musikgeräte/instrumente!!!
vorderhand wird es eine platzkundgebung...bei genügen leuten motivation und stimmung kann es auch zu einer demo durch die statd ausgebaut werden!!!

ACAB"

FMO liegt mittlerweile auch der Originaltext jener SMS vor, die zu "Rache" aufruft:
"Hey zäme!
Willt stapo ois alti party gstürmt het gits jetzt e rache aktion zmits am bellevue.
E fetti party (mier zapfed d'vbz lutsprecher ah un pflanzed en fette verstärcher ufs dach und denn wird grockt)
Es chömed ca 500lüt segets allne witer wo iehr kenned und mieer werded 1000 grenze knacke odr no meh!
Bis denn
Samstig 10 sept. Am punkt 11i am bellevue.
Vepasseds ned!
Shicked das sms wiiter un ja nix uf facebook."

"Freundliche Bitte" der Polizei: Sag's mit Gummischrot!

Die Polizei dient den Medien als einzige "vertrauenswürdige" Quelle und ihr Pressesprecher sieht die Ereignisse so:
"Als rund 20 Leute auf ein Glasdach stiegen, mussten wir jedoch reagieren, weil die Leute sich selbst gefährdeten. Es herrschte akute Einsturzgefahr und die Menschen befanden sich in unmittelbarer Nähe einer Fahrleitung. Wir sprachen mit den Leuten und wiesen sie an, vom Dach herunterzusteigen. Das klappte im ersten Moment recht gut. Urplötzlich schlug die Stimmung jedoch um. Aus der Masse traten die Randalierer, welche die Polizisten massiv mit Pflastersteinen und anderen Gegenständen attackierten. Die Polizei musste deshalb reagieren. Von den einzelnen gewalttätigen Chaoten liessen sich später offenbar andere anstecken."
(Michael Wirz, Pressesprecher der Stadtpolizei, tagesanzeiger.ch)
(Foto: Indymedia Schweiz)
Fast schon als kritische Reflexion kann man daher den "Tagi"-Artikel vom Montag betrachten, der sich "Wie wird man zum Chaoten?" nennt. In der ersten Presseaussendung der Polizei war sogar von "herunterbitten" der Leute vom Haltestellen-Dach die Rede, sämtliche Zeitungsberichte (NZZ, Tagesanzeiger, 20 Minuten) haben diese Formulierung übernommen. Wie nahe die auf dem Dach Befindlichen tatsächlich an den Stromleitungen waren, zeigt nebenstehendes Bild (Foto: ch.Indymedia).

Zur fadenscheinigen, vorgeschobenen Behauptung, Sicherheitsbedenken seien der Grund für das Einschreiten, hat ein Zürcher Facebook-User folgenden Bildvergleich beizutragen:

(Illustration: T. Cassee, Facebook)

Partygästen und Augenzeugen sehen die Ausgangssituation in Online-Kommentaren übereinstimmend anders, auch der Darstellung der Polizei (und dadurch den Medien), erst gegen Mitternacht eingeschritten zu haben, wird deutlich widersprochen:
"Die starken Bilder sind allesamt entstanden, als die Situation schon lange eskaliert war. Darum spricht die Polizei wahrscheinlich auch davon, dass sie erst gegen Mitternacht eingreifen mussten. Tatsache ist, dass die Polizei unmittelbar nach 23 Uhr voll gegen alle Anwesenden vorgegangen ist und Panik provozierte. Zeigen Sie die Bilder zwischen 23:00 und 23:45!" (Kommentar auf tagesanzeiger.ch)
"So schön kann die simple Welt sein. Hier die Chaoten, dort die rettende Polizei. In der realen Welt war das Bellevue auch mit Touristen und normalen Passanten bevölkert. Auf diese ging die Polizei gleichermassen mit Gummischrot und Tränengaspetarden los. Alles in allem eine sehr unschöne Geschichte, die dringend restlos geklärt werden muss." (Kommentar auf tagesanzeiger.ch)
"Wenn "konsequent defensiv" bedeutet wir stürmen eine friedliche Party, schiessen auf alles was sich bewegt und decken einen ganzen Banhof mit Tränengas ein, dann will ich ja nicht wissen was den offensiv wäre. Zudem bleibt die Frage, wieso die Polizei die Menschen auf dem Dach in Vollmontur, drohend mit Pfefferspray und Gummischrot, herunter holen musste und nicht das Gespräch suchte?" (Kommentar auf tagesanzeiger.ch)

"Wenn die Polizei meint sie müsse eine friedliche Party (unter der Hardbrücke und im Wald nahe beim Zoo) bekämpfen, dann ist irgendwas nicht richtig! Vlt. war das ein Weckruf an die stadtzürcher Regierung endlich mal vernünftig zu handeln und den gesunden Menschenverstand walte zu lassen (nicht einfach blind nach irgendwelchen Gesetzten zu handeln). Die Party im Wald war friedlich bis die Polizei ohne jeglichen Grund kommt, nur weil irgend ein dämliches Gesetzt dies vorschreibt." (Kommentar auf 20min.ch)

"Wir sind um 0:20 mit dem Zug durch den Bahnhof Stadelhofen gefahren und es sind einige ältere Personen mit stark gereizter Haut und tränenden Augen zugestiegen. Ich stelle fest, dass die Stapo Dealer in der Langstrasse freundlich bittet und wenn ordentliche Bürger mal etwas feiern, dann gibt's Tränengas (in meinem Fall während der Euro 2008). Was ich bisher lese, so scheint mir eine geordnete Untersuchung angebracht. Die Verhältnismässigkeit der Mittel scheint mir nicht gewahrt. Hätten geziehlte Festnahmen nicht gereicht? Warum wurde eine Massenpanik riskiert?" (Kommentar auf 20min.ch)
"Also erstens finde ich das ALLE die nicht da waren hier einfach nichts zu sagen haben. Dann es war Gewaltbereitschaft beiderseits und die ''Randalierer'' haben viel zerstört aber auch die Polizei war total unkontroliert, sie haben mit der Zeit angefangen ziellos über die Häuser am Belevue richtung Bhf. Stadelhofen zu feuern. Ich habe leute gesehen die auf ihren Zug gewartet haben die sogar über der 60 waren die Tränten weil das ganze Gebiet so eingenebelt war, sowas ist auch einfach nur noch Peinlich wenn so ein gegenschlag ziellos und unnüberlegt ausgeführt wird. sowas Ist auch traurig." (Kommentar auf 20min.ch)

Ablehnende, kritische Kommentare gegenüber den RandaliererInnen und Forderungen nach mehr Polizei und härterem Durchgreifen sowie reine Beschimpfungen gibt es natürlich auch jede Menge. Eines der interessanteren Statements daraus ist noch dieses:

"Diese "Rache-Party" war eine nachlässig kaschierte, verspätete 1.Mai-Nachdemo. Das ahnungslose Partyvolk wurde per SMS zu einem angeblich coolen Event gelockt. Wieso packt dann aber der zufällig anwesende schwarze Block die Vollmontur aus den Rucksäcken? Gehören Skibrille & Co. zur Standardausrüstung an einem lauen Zürcher Sommerabend? Die Linksextremen versuchen, neue junge Fans zu rekrutieren." (Kommentar auf tagesanzeiger.ch)

Die Zahl der übereinstimmenden bzw. zusammenpassenden Kommentare über den Hergang der Ausschreitungen sprechen für sich - und gegen die (natürlich) einseitige Darstellung der Polizei (die aber genauso "natürlich" von den ahnungs- und quellenlosen Medien übernommen werden). Die Polizei dürfte - zum wiederholten Male - ohne lang rumzufuchteln mit Bereitstehen der gerüsteten Einheiten Gummischrot schießend gegen die Menge vorgeprescht sein. Eine vorhersehbare Handlung der Polizei, auf die zahlreiche BesucherInnen dieses Mal besser vorbereitet waren als etwa bei der Auflösung der "Polizei- und Justiz-Parade" unter dem Bahnhof Hardbrücke, am Gelände des alten Güterbahnhofs, wo auch die Autonome Schule Zürich (ASZ) einquartiert ist. Die widerstandslose Verlegung der Party in die ASZ wurde von Teilen der autonomen Szene kritisiert. In einer Ende August erschienenen Publikation der autonomen Szene ist vermerkt: "13.8 Sauvage unter Hardbrücke, Auflösung durch blosse Androhung: So geht das nicht! Das perfekte Riot-Areal, und nicht mal der Versuch Widerstand zu leisten..." - daneben ist vermerkt: "SAUVAGE KOMMT VON WILD ... UND WIR SOLLTEN DIESEM NAMEN MAL WIEDER ALLE EHRE MACHEN!!!"

Dies sowie die Aufösung einer Freeparty in einem Wald bei Zürich vor kurzem sollen laut Medien, die sich auf Hinweise von Informanten und SMS-Ketten beziehen, die Motive für diese spontan angekündigte Sauvage am Bellevue gewesen sein.

Letztlich gab es acht verletzte PolizistInnen, zwei Verhaftungen und eine nicht bekannte Zahl verletzter DemonstrantInnen, darunter laut AugenzeugInnen eine bewusstlose Frau und Jugendliche mit Verletzungen im Gesicht bzw. am Kopf durch die Gummigeschoße. In der Umgebung des Bellvue, etwa am Vorplatz des Bahnhof Stadelhofen, wurden Müllcontainer und Barrikaden angezündet, PolizistInnen mit Gegenständen beworfen, Pyrotechnik gezündet - die Polizei setzte neben Gummigeschoßen auch Reizgas ein. In Zeitungs-Foren wird berichtet, dass Schwaden von Reizgas in den unterirdischen Gängen des Bahnhofs hingen, zahlreiche wartende Passagiere, darunter auch PensionistInnen, flüchteten mit tränenverzerrten Gesichtern in die S-Bahnen (Foto: Tränengas-Schwaden über Bahnhof Stadelhofen). Die Auseinandersetzungen daurten laut Polizei und Medien bis 1 Uhr, laut Indymedia bis 2 Uhr an.





weitere Videos auf 20min.ch

Zürich ist anders

Zürich ist anders. In vielerlei Hinsicht. Das meiste lässt sich direkt oder indirekt auf Geld zurückführen.

- Einkommen, das zwar im Schnitt doppelt so hoch ist wie in Österreich, aber trotzdem zu mehr als der Hälfte den Immobilienbesitzern in den Rachen geworfen werden muss (städtischer Wohnbau und Genossenschaften machen gemeinsam nur 25 % des Wohnungsangebotes aus, während dieser Wert in Wien bei rund 65 % liegt) Wegen der hohen Löhne gibt es generell deutlich höhere Lebenshaltungskosten als in Österreich. In grenznahen Regionen (auch Zürich ist nur eine Stunde von der deutschen Grenze entfernt) liegt Shopping-Tourismus im Trend: Alle ein oder zwei Wochen mit dem Auto zum Großeinkauf in das Einkaufszentrum von Landshut, Bayern, das ist vor allem bei Familien weit verbreitet, die für ihre Kinder viel berappen müssen und dabei nur wenig Zuschüsse vom Staat erwarten können.

- Geld, das den öffentlichen Haushalten aufgrund des "Steuerwettbewerbs" zwischen den Kantonen fehlt, weshalb beispielsweise die Polizei zu wenig Personal (freilich liegt "zu wenig" im Auge des Betrachters, in diesem Fall eben jenem der "Gesetzeshüter", die illegale Versammlungen aufzulösen haben) hat, um in Fußballstadien (wie in Deutschland oder Österreich üblich) für Sicherheit zu sorgen. Stattdessen ist dies eine Angelenheit großer privater Sicherheitsdienste. Die sorgen dann für eine gute Stimmung am Stadionengang und enden in einem Desaster für die Polizei (Stadion Letzigrund, Zürich, 11. Mai 2011). Auch bei anderen Großanlässen, nicht nur am 1. Mai, stellt sich die Zürcher Polizei meist in klarer Unterzahl der Konfrontation mit gewaltbereiten Jugendlichen.

Jugend flieht vor finanzieller Ausbeutung in illegale Partszene

Die Folgen dieser unterschiedlichen "Grundkonstanten" äußern sich auf der Seite der Bevölkerung dadurch, dass in Zürich seit Jahren eine illegale Partyszene blüht - denn die Clubs der Stadt kosten durchwegs ab 20, 25 Franken (mind. 15-20 Euro) aufwärts, Konzerte kosten häufig doppelt so viel und in Bars und Lokalen zahlt man umgerechnet 6 Euro für ein großes Bier und kriegt dann doch nur 0,4 Liter. Drinks und Cocktails kosten im Schnitt ab 10 Euro aufwärts. Das ist dann auch für gut verdienende Schweizer, zu denen SchülerInnen, StudentInnen aber auch Lehrlinge ohnehin nicht gehören, keine Kleinigkeit mehr. Viele Jugendliche sind daher Teil jener SMS-Ketten, die illegale Goa-, Minimal-Techno und House-Partys in den umliegenden Wäldern ankündigen. Diese finden zwischen Frühling und Herbst häufig an beiden Tagen des Wochenendes statt, manchmal auch mehrere in der gleichen Nacht.

Squats fester Bestandteil der Subkultur

Eine weitere Folge der Zürcher Grundkonstanten "hohe Miete, teure Partys, teures Leben" ist eine lebendige HausbesetzerInnen-Bewegung, die sich in den 70er- und 80er-Jahren heftige Kämpfe mit der rücksichts- und kompromisslosen Polizei geliefert hat, bevor die seit Jahrzehnten regierende bürgerlich-liberale Stadtregierung 1989 nach einer neuen Rekordwelle an Hausbesetzungen im laufenden Jahr, schweren Auseinandersetzungen mit der Polizei bei Räumungen oft aufwändig und gefährlich verbarrikadierter Häuser sowie einem Toten (beim unmittelbar auf eine Räumung folgenden Abriss starb der im Haus befindliche Architekt) die Notbremse zog und nicht zuletzt aufgrund der explodierenden Kosten im Polizeiressort Hausbesetzungen teilliberalisierte. Eine Verordnung besagt seither, dass die Polizei besetzte Häuser nur dann räumt, wenn außer der Anzeige durch den Besitzer zwingend auch ein Baubescheid, Abbruchbescheid oder Mietvertrag vorliegt. Bei den Wahlen ein halbes Jahr später wurde die Regierung durch eine neue Koalition aus Rot-Grün abgelöst. Diese hält bis heute an, die liberale Räumungspraxis wurde festgeschrieben, wird fortgeführt und aufgrund ihrer "Bewährung" (Stadtrat) beibehalten. Seit mehreren Jahren sind - mit wechselnden Adressen - durchgehend 15 bis 20 Häuser besetzt und bewohnt.

Weniger Polizei, dafür brutaler

Auf Seiten der Polizei äußert sich der Umstand, personell mit eingeschränkten Ressourcen und meist in der Unterzahl agieren zu müssen, in "besserer", sprich: härterer Ausrüstung. So gehören Gummischrotgewehre neben Rüstung und Schildern zur Standardausrüstung eines jeden Polizeifahrzeuges. Diese werden bei Einsätzen auch rasch eingesetzt, um die numerische Unterlegenheit auszugleichen. Und so zeigt man sich bei illegalen Versammlungen selten kompromissbereit, das Gummischrotgewehr ist schnell bei der Hand, mit Reizgas kann man gut nachsetzen, und wer ihnen zu nahe kommt wird geknüppelt und wenn möglich eingebuchtet. Der Wasserwerfer ist eigentlich auch immer dabei, weshalb das Zürcher Demonstrationspublikum ein hohes Tempo gewohnt ist und der Wasserwerfer seinem Einsatz hinterher hinkt.

Dazu muss man wissen, dass in Zürich eine Versammlung von der Polizei genehmigt (erlaubt), nicht nur angemeldet werden muss. Die Folge: Angemeldete Demonstrationen werden häufiger verboten als etwa in Wien, weshalb viele Demonstrationen gar nicht erst angemeldet werden. ia SMS-Ketten organisierte Spontandemos finden häufiger statt und erreichen erstaunliche Teilnehmerzahlen, wie nicht nur das jüngste Reclaim the Streets gezeigt hat. Einmal mehr zeigt sich hier, wie wichtig Party als politisches Ausdrucksmittel der Jugend sein kann, wenn Party und Protest nicht als Widersprüche betrachtet werden und somit "unpolitisierte" Nicht-Szene-Mitglieder von vornherein von Aktionen ausschließen.

Reclaim the Streets auch in Wien denkbar?

Auf Wien umgelegt wäre ein Reclaim the Streets durch die organisierte Freetekno-Szene mit ihren SMS-Verteilern denkbar, doch diese hat grundsätzlich kein Interesse auf Konfrontation mit der Polizei, man will nur in Ruhe feiern. Würde die Polizei im Raum Wien jedoch eine rücksichtslosere Schiene einschlagen und Partys gewaltsam auflösen, wäre ein derartiges Szenario auch hierzulande denkbar. Szenarien wie dieses in der Area 51, 2003 in Wien, könnten dann rasch eskalieren. Ab 2013 steht unsere Gesellschaftsordnung ohnehin neu zur Disposition, eine Machtbeteiligung der FPÖ scheint sehr wahrscheinlich, "zero tolerance" (wohl mit Fokus auf dem "linken" Auge und Blindheit rechts) in einem FP-Innenministerium ab 2013 wäre wohl so etwas wie ein Garant für eine Radikalisierung der Szene, ausgelöst durch Rücksichtslosikkeit und größere Gewaltanwendung seitens der Polizei. Und da "Linksextremismus", wie das ganze schließlich wohl genannt wird, von Rechts vortrefflich als Wahlargument für Rechts ausschlachten lässt, macht diese Variante für FPÖ-PolitikerInnen umso attraktiver und wahrscheinlicher. Bis dahin ziehen jedoch die meisten die Einigelung in ihren Rückzugsorten vor um Konfrontationen auszuweichen, solange es noch geht.

Bis dahin werden die wenigen Ansätze, eine Art "Reclaim the Streets" in Wien durchzuführen, auf zumeist gescheiterte Versuche beschränkt. Etwa eine angekündigte, aber abgesagte Party am Schillerplatz vor der Akademie der bildenden Künste Anfang Juli 2011 oder eine kleine Party am Campus am 30. September 2010, die von einem Straßenfest des Amerlinghauses ausgehen hätte sollen und in der nahe gelegenen Burggasse 2 (ein in seiner 7-jährigen Leerstandsphase bis 2010 beliebtes, da zentrales und Besetzungsobjekt) hätte stattfinden sollen, was nicht gelang und nach langen Verzögerungen mit den verbliebenen Motivierten um 0:30 Uhr auf den Campus verlegt und dort von der Polizei ab 3:30 Uhr brutal aufgelöst wurde (WienTV.org). Dabei wurde gezielt gegen Fotografen und Filmende vorgegangen, auch Hunde ließ man los (die dadurch Verletzten wurden von der Polizei zur Rechtfertigung wegen "Widerstand gegen die Staatsgewalt" und "schwere Körperverletzung" angezeigt).

Wie groß das Potenzial der Verbindung der Underground-Party-Kultur mit Protestbewegungen wäre, kann man sich angesichts Bilder wie jener der letzten Freeparade in Wien, eine zu 100 % anti-kommerzielle Tanzparade durch ganz Wien, bei der ein gutes Dutzend Freetekno-Soundsysteme 3.000 bis 5.000 Menschen angeheizt hat, nur ausmalen. Dass die Szene nicht per se unpolitisch ist, wie gerne behauptet wird, zeigen nicht zuletzt Transparente gegen den Überwachungsstaat, gegen (die damalige) Innenministerin Fekter, gegen § 278a, gegen Nazis etc.:

 
blank info