Donnerstag, 11. August 2011

London Riots 2011 - für Gerechtigkeit ist es jetzt zu spät

Zu den gewalttätigen Krawallen in London gibt es viele Berichte, viele verschiedene Ansichten, Analysen und Kommentare. Die meisten davon fallen in das "Schema F", sind aus der Sicht jener formuliert, die vom gegenwärtigen Gesellschafts- und Wirtschafts-System profitieren oder zumindest glauben, dies zu tun. Sie sind Politiker, Unternehmer, Polizisten und Journalisten (jeweils natürlich auch -innen) auflagenstarker Tages- und Boulevardzeitungen. Sie haben gut reden - und können auf die Zustimmung jenes Großteils der Bevölkerung zählen, die sich als Angehörige der Mittelschicht verstehen: Sie haben sich ihre Brötchen und Flachbildfernseher mit harter, zumindest jedoch zeitraubender, Arbeit verdient. Sie haben entsprechend viel zu verlieren - und fürchten dies auch. Sie vertrauen auf einen Staat, in dem die Polizei "hart" erarbeitetes Eigentum schützt und (ebenso hart) verteidigt. Nur wenn sie sich darauf verlassen können, lohnt es sich überhaupt, materielle Güter anzuhäufen. Ihre Reaktion auf die Krawalle ist daher klar: Null Verständnis, null Toleranz. Wenn es den Leuten schlecht geht, dann sollen sie - so die Ratschläge je nach Intelligenz und Differenzierfähigkeit - "einfach" arbeiten oder "meinetwegen" friedlich demonstrieren. Denn wenn mich etwas stört, "darf" ich ja auch nicht einfach das Auto meines Nachbarn anzünden und mit der Rechtfertigung, ich hätte ein beschissenes Leben, auf Verständnis hoffen. Denn: Wenn das alle täten, wo kämen wir denn da hin?

alle sind Mittelschicht - nur nicht "die anderen"

So weit und so nachvollziehbar also die Argumente derjenigen, die glauben, in einer mehr oder weniger funktionierenden demokratischen Gesellschaft zu leben. Sie glauben daran, dass man mit harter und ehrlicher Arbeit im Grunde alles erreichen kann. Klar wissen sie, dass es Leute gibt, die einfach "nur" Bauarbeiter, Müllfrauen, Putzmänner usw. sind und dass es eine große Zahl von Menschen gibt - häufig Zuwanderer und deren Kinder - die in ziemlich armen Verhältnissen leben. Sie wissen es. Aber ihr Mitleid hält sich in Grenzen. Denn in ihrem Weltbild handelt es sich dabei um Leute, die aus irgendwelchen Gründen nicht fähig sind, ihren "sozialen Aufstieg" zu managen. Dass es sich bei diesen Menschen, die man als Unterschicht zu identifizieren glaubt, augenscheinlich vor allem um "Fremde" handelt, ganz gleich, ob schwarz, gelb, braun oder was auch immer (bloß eben nicht weiß), erklärt man sich damit, dass es "offenbar" gewisse kulturelle Barrieren gibt (um es mal gewählt zu formulieren), die die Eingliederung in den Arbeitsmarkt bzw. den sozialen Aufstieg verhindern. Man reimt sich dann allerhand Dinge zusammen: die Menschen seien halt kulturell anders geprägt, sind von Haus aus eher faul, kommen aus dem Süden, Schwarze seien sowieso kriminell und dealen "gerne" mit Drogen usw. usw. - und damit ist eigentlich schon sehr vieles gesagt, was die "Fronten", die zwischen verschiedenen sozialen und ethnischen Gruppen praktisch in der gesamten westlichen Welt (und nicht nur dort) verlaufen, erklärt.

Rassismus & "Multi-Kulti ist gescheitert" vs. Kapitalismus und soziale Realität

Es erklärt beispielsweise den zunehmenden, tief überzeugten Rassismus in nahezu allen europäischen Ländern. Wer jetzt meint, der Rassismus würde nicht zunehmen, da er schon immer vorhanden gewesen sei, der hat möglicherweise ebenfalls recht. Vielleicht ist das, was in den letzten rund zehn Jahren in vielen europäischen Ländern zu sehen ist, keine Zunahme des Rassismus an sich, sondern nur eine Zunahme und Radikalisierung des rassistischen Diskurses. Denn aus den in den obigen zwei Absätzen kurz angeschnittenen gesellschaftlichen und gedankenweltlichen Gegebenheiten leiten viele Menschen auch den "Wahrheitsbeweis" ab, dass "Multikulti" gescheitert sei (so gelesen etwa in diesem britischen Blog hier). Populistische Politiker wissen diesen Umstand sehr gut für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.

Reaktion der Politik: Feuer mit Feuer bekämpfen

Zum anderen erklärt es das große Unverständnis, aufgrund welchem der "Mainstream" nach harten Reaktionen des Staats ruft, ja sogar nach der Streichung der letzten verbliebenen Sozialleistungen oder den Rausschmiss aus Sozialwohnungen. In der Logik der Menschen, die so etwas fordern, haben die Randalierer aus den Armenvierteln Londons das Vertrauen der restlichen Bevölkerung missbraucht, die ihnen mittels Steuern ja Sozialleistungen, Jugendzentren, Hilfsprogramme usw. zukommen lassen. Nicht wenige meinen nun, es sei rausgeschmissenes Geld, Sozialleistungen an "Kriminelle" auszubezahlen. Eine nicht wirklich schlüssige Schlussfolgerung, für die die entschlossenen Statements David Camerons, es würde sich keinesfalls um politische Proteste sondern nur um "kriminellen Abschaum" handeln, maßgeblich mitverantwortlich ist. Denn die oben angerissene Gedankenwelt eines "Mainstream-Britens" wird durch derartige Aussagen A) bestätigt und B) um weitere sehr gefährliche Elemente bereichert. Denn in der weitgehenden Ratlosigkeit, warum denn diese Krawalle stattfinden würden, knüpft Cameron an bereits bestehende Ressentiments an und verbindet bzw. bestätigt diese mit seiner als Wahrheit dargestellten Behauptung, es handle sich um "kranke" Kriminelle, denen man nur mit Gewalt die Grenzen ihrer "Maßlosigkeit" (!) zeigen könne.

Es bedarf wohl kaum weiterer Ausführungen, in welche Richtung sich alles entwickeln würde, würde man den Armenvierteln der Stadt auch noch die letzten staatlichen Zuwendungen entziehen. Die Frage, wozu die Unterschicht überhaupt Steuern bezahlen soll (ja, Mehrwehrtssteuer, Mineralölsteuer und viele andere lustige Dinge bezahlen alle!), wird ja schon jetzt gestellt - von einer Bevölkerungsgruppe, die von der Hand in den Mund leben muss und als einzige staatliche Leistung jene erfahren kann, dass die Polizei "routinemäßig" dunkelhäutige Teenager in aller Öffentlichkeit filzt und beschimpft. Tag für Tag! Oder wie es der Quartier-Bewohner und Schriftsteller Darcus Howe nennt: sein Enkel zählt schon gar nicht mehr, wie oft er an einem einzigen (!) Tag von der Polizei gef**** wird:



So weit also der Mainstream-Diskurs über die Krawalle in einer Art Zusammenfassung, ohne auf (x-beliebige) Beispiele aus der Boulevard-Presse, Politiker-Zitate etc. einzugehen - das gibt es - wie gesagt - eh im Mainstream, überall, zu hören, lesen und zu sehen. Bloß dieses Video, bei dem man mehr hört als sieht und das den unmittelbaren Auslöser der Krawalle darstellen soll, wird erstaunlicherweise seit dem zweiten Tag der Proteste gar nicht mehr erwähnt. Die Krawalle hätten plötzlich im Anschluss an die friedliche Demo völlig unvermittelt begonnen. Glaubt man jedoch den Behauptungen von Augenzeugen, die zumindest im Guardian Live-Blog anfangs noch Gehör fanden, eskalierte die Gewalt erst nachdem ein 16-jähriges Mädchen nach einem sicherlich nicht schönen, aber letztlich verbalen Wortgefecht, von einer Horde Polizisten (im Video zu sehen) niedergeprügelt wurde. Am Ende des Videos hört und sieht man noch, wie immer mehr Leute total aufgebracht Richtung Polizei laufen. Dann endet des Video. Die nächsten Videos zeigen dann schon, wie Polizeifahrzeuge zerlegt werden. Kennt man die Vorgeschichte, ist das alles andere als überraschend oder gar unpolitisch.

der unmittelbare Auslöser der Krawalle: Polizei verprügelt im Anschluss an friedliche Demo gegen den Polizeimord an Mark Duggan ein 16-jähriges Mädchen:

Und jetzt zum eigentlichen: Natürlich sind diese Krawalle kein zufälliger "Gang Bang" (wenn man so will) eines riesigen Haufens Krimineller die in ihren Kriminellen-Wohnungen in Kriminellen-Vierteln leben. Natürlich ist es ein "Skandal" (ein leider bereits viel zu abgenutztes und daher längst zu schwaches Wort, um so etwas zu beschreiben), wenn Zitate eines demokratisch gewählten europäischen Premierminister kaum mehr von jenen eines beliebigen arabischen Despoten oder von Erwin Pröll unterschieden werden können, wenn man die gesamte britische Unterschicht, die den Wohlstand, von dem verhätschelte Kinder wie David Cameron zehren, überhaupt erst möglichen, pauschal als "Abschaum" und "kriminelles Pack" bezeichnet. Ein Skandal deshalb, weil diese eskalierende "Kriminalität", wie der Mainstream es nennt, ja aus dem Zentrum der britischen Gesellschaft entspringt. Und wer sonst, wenn nicht die Gesellschaft und ihre demokratisch gewählten Repräsentanten, ist für den Zustand dieser Gesellschaft verantwortlich?

Dass eine derartig dreiste Lüge und Diffamierung nicht als Skandal gewertet wird, ist wohl einzig dem Umstand zu verdanken, dass es - wie oben ausgeführt - für eine breite Mehrheit der Gesellschaft konsensfähig ist, dass es "offensichtlich" um importierte Kriminalität, verkörpert durch die Kinder der Zuwanderer und ethnischen Minderheiten, handeln "muss". Das erklärt dann wiederum, wie Thesen wie jene Thilo Sarrazzins, bei Moslems gebe es eine Art genetisch vererbte Dummheit, überhaupt auf so große Akzeptanz stoßen. Die Zuwanderung der letzten Jahrzehnte hat den (jeweils) Einheimischen vielfach die "Drecksjobs" abgenommen. Aber statt als "neue Unterschicht" werden diese Menschen nun als "zurückgebliebener Haufen" wahrgenommen - während man sich selbst als vorbildliches Beispiel des sozialen Aufstiegs versteht. Ein sozialer Aufstieg, der durch Zuwanderung ermöglich wurde und der statt mit Dank mit Hass und Rassismus beantwortet wird. Und jeder, der weiß, wie es ist, wenn man statt Dank für seine harte und kaum entlohnte Arbeit auch noch Hohn, Spott oder gar Hass zu spüren bekommt, der kann sich ausmalen, wie man sich in so einer Lage fühlen muss. Wenn sich das ganze auch noch Jahrzehnte hinzieht, ohne Aussicht auf Aufstieg oder Besserung, dann kann man sich nur wundern, dass derartige Aufstände nicht öfter stattfinden und heftiger ausfallen.

It´s Neoliberalism - stupid!

Dass die Aufstände, die scheinbar wahllos und ohne Rücksicht und noch dazu in der eigenen Nachbarschaft alles zerstören, plündern und in Brand stecken, Ausdruck der massiven sozialen Ungleichheit in Großbritannien sind, sollte eigentlich auf der Hand liegen. Das ohnehin schwache Sozialsystem der Briten, das eher jenem der USA als jenem Festlandeuropas ähnelt, wird seit über einem Jahr weiter demontiert. Und das ohne jegliches Maß und Rücksicht. Die herablassende und zutiefst entwürdigende Wortwahl von David Cameron und Nick Clegg ist bei dieser Politik, die Studiengebühren verdreifacht und Sozialleistungen radikal kürzt oder streicht, gar nicht mehr verwunderlich. Sie steht für die tiefe Entfremdung der Lebenswelt der britischen Elite von jener der armen Massen. Und es handelt sich dabei keineswegs um unerforschte oder unbekannte Entwicklungen. Im ganzen Medien-Blabla haben es manche Medien tatsächlich vollbracht, ausgewiesene Experten nach ihrer Einschätzung zu befragen. Für die in Großbritannien lebende Soziologin Saskia Sassen spricht die Politik "die Sprache der Tyrannei" (Der Standard), und Soziologe Richard Sennett erklärt dem Spiegel, "warum die britische Gesellschaft viele junge Leute isoliert und kriminalisiert." Der Zusammenhang zwischen Armut, sozialer Ausgrenzung und den Krawallen von 6. bis 9. August in London wird auf dieser präzisen London-Karte des Datenjournalisten Matt Stiles: betroffen waren fast ausnahmslos die Armenviertel der Stadt:


Also schloss man in London erst unlängst zahlreiche Jugendzentren, die für viele mittellose Kids und Teenager der Wohnblocks in den ärmeren Stadtteilen der einzige soziale Treffpunkt abseits der Straßen war. In einem Video-Beitrag des Guardian meinten Betroffene schon damals, dass dies fürchterliche Folgen haben könnte. "There will be riots" meinte einer etwa:



Aber wer neoliberal denkt und für den Vorteil Weniger zulasten Vieler handelt, kümmert sich keinen Deut um Beschwerden oder Proteste betroffener. Das hat sich bei den sowohl friedlichen als auch gewalttätigen Protesten der Studierenden und der Gewerkschaften zwischen Herbst 2010 und Frühjahr 2011 gezeigt. Wenn dann auch noch die black community gegen Polizeigewalt und -willkür protestiert, findet das in der Medienberichterstattung erst gar keinen Widerhall. Als ob sie in einer anderen Welt leben würden. So geschehen im März 2011 nach dem Tod von Smiley Culture, einem bekannten (und schwarzen) Reggae-Musiker und DJ. Er starb an den Folgen von Verletzungen bei einer Polizei-Razzia in seiner Wohnung südlich von London. Es gab eine große, aber friedliche Demonstration in London, von der Öffentlichkeit praktisch nicht wahrgenommen. Und es war nicht das erste Mal, das ein Schwarzer in London von Polizisten getötet wurde. Rechtliche Folgen hat so etwas jedoch nie. Seit 1998 kamen 333 Menschen bei Polizeieinsätzen ums Leben. Kein einziges Mal wurde ein Polizist dafür verurteilt, obwohl es an umstrittenen Todesfällen nicht mangelt (vgl. Kopfschuss-Hinrichtung eines Mannes in der Londoner U-Bahn 2005). Und dann ist es wieder mal so weit: am 4. August erschießt die Polizei bei einer Fahrzeugkontrolle einen vierfachen, 29-jährigen, schwarzen Familienvater. Die Sparmaßnahmen, etwa durch die Schließung von Jugendzentren und die Beendigung von Sozialprogrammen, haben zu diesem Zeitpunkt längst "gegriffen". Der Dampfkochtopf explodiert. Für Gerechtigkeit oder die Erwartung moralisch richtiger Handlungen ist es hier zu spät.

Die Frage "Is rioting the correct way to express your discontent?" liegt aus all diesen und noch vielen Gründen mehr für viele Jugendliche in den betroffenen Stadtteilen Londons auf der Hand: "Yes. You wouldn't be talking to me now if we didn't riot, would you?"

siehe auch:
- zurpolitik.com:
Eine Busfahrt durch Tottenham
- zurpolitik.com: London wird weiter brennen
 
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