Dienstag, 23. August 2011

It's capitalism, stupid! Oder die Unfähigkeit der westlichen Gesellschaft zur Gesellschaftskritik

Schön langsam nervt's echt, dieses "Was ist bloß los mit der Welt?"-Getue überall. Warum krachen die Börsen? Warum können die Staaten ihre Schulden nicht mehr bezahlen? Warum die Menschen auch nicht? Warum sind die Mieten so hoch, die Löhne so niedrig? Warum die Rechten so stark und die Kids in den Wohnsilos so brutal und unanständig?

Dann gehen die Menschen zu Millionen auf die Straßen: in Madrid, Barcelona, Athen, Tel Aviv, London, Lissabon, Vancouver, Stuttgart ... und was tun sie? Sie plappern (zumindest in der "westlichen Welt") genau das gleiche nach: "Ach, wir wissen auch nicht so ganz, was eigentlich los ist. Wir sind halt unzufrieden, aber sollen doch die anderen überlegen, was man besser machen kann."

Die ganze Welt steht vor einem brennenden Wald und protestiert dagegen, aber auf die Idee, ihn zu löschen, kommt niemand!

Dabei liegt doch alles auf der Hand, die ach so schlechten Medien präsentieren täglich neue Zahlen und Statistiken, führen Interviews mit Experten (die sich auch fein raus halten, mehr als nur Symptombekämpfungen vorzuschlagen), machen Reportagen und zitieren aus einschlägiger Weltwirtschaftskrisen-Fachliteratur, um dann am Schluss zum erkenntnisreichen Ergebnis zu gelangen: "Ach ne, sowas blödes aber auch."

Rechts und Links = alles die selbe Scheiße?

Warum ist das so? Ich denke, auch diese Frage ist relativ einfach zu beantworten: zum einen pure Ahnungslosigkeit und Verblendetheit (Stichwort: Leistungsgesellschaft - wenn sich alle nur genügend anstrengen werden uns "die Märkte" ein schönes Leben besorgen - ergo strengen wir uns derzeit offenbar nicht genug an), zum anderen Feigheit. Feigheit davor, "linkes Gedankengut" auszusprechen. Warum sollte man sich davor scheuen? Ganz einfach! Rechts und links sei ja die selbe Scheiße, wird einem aus der supersauberen Mitte permanent entgegengepredigt, und jeder, der linkes Gedankengut ausspricht, macht sich zum "Ziehvater" des Linksextremismus. So das un(?)ausgesprochene Dogma im Westen. Und überhaupt: Die Begriffe Rechts und Links seien ja sowas von oldschool und aus der Mode, diese einfache Differenzierung von Weltbildern sei in der heutigen komplexen Welt weder möglich noch sinnvoll.

Der unangenehme Nebeneffekt davon ist, das man nur schwer Argumente gegen Rechts vorbringen kann, wenn linke Argumente quasi "verboten" sind. Und wer es doch wagt, vor einer breiten (Medien)-Öffentlichkeit linke Gedanken auszusprechen, der wird eben - ihr habt es erraten - als Kommunist, Träumer, Spinner oder - noch besser! - Terrorist dargestellt. Daran wird sich auch so lange nichts ändern, als die Menschenmassen auf den Straßen sich weigern, Position zu beziehen. Nichtsdestotrotz sind die "apolitischen" (zumindest die Demonstrierenden selbst glauben daran) Demonstrationen überall in der westlichen Welt der erste wichtige und richtige Schritt in die richtige Richtung. Würde jemand zu einer "linken" Demo aufrufen, würden alle Café Latte-Prekariats-Bobos lieber noch ein paar unbezahlte Überstunden drauflegen, als sich darüber zu empören, dass ihre Miete im Vergleich zum Vorjahr um über 30 % gestiegen ist (so der Schnitt in Tel Aviv).

Soweit die Einleitung. Und jetzt kommen die Antworten, auch wenn es ziemlich "uncool" ist, in der heutigen Zeit Antworten auf die brennenden Fragen zu geben - noch dazu, wenn die Antworten so einfach sind. Ich mach es trotzdem, denn wie gesagt, schön langsam wirds mir zu blöd, wenn nach 3 Jahren Wirtschaftskrise zwar schon alles gesagt ist (und immer konkreter wiederholt wird), aber die einzelnen Teile des Puzzles teils absichtlich, teils fahrlässig, nicht und nicht zusammengesetzt werden.

Die Teile des Puzzles zusammensetzen: Rechts und Links unterscheiden

Zuerst einmal noch etwas zu rechts und links. Es ist mitunter erstaunlich, welch treffsichere Analysen und Kommentare sich in österreichischen Zeitungen zur Wirtschaftskrise, ihren Ursachen und Folgen finden lassen - ohne ernsthaft beachtet zu werden (die Gründe dafür hab ich oben bereits erläutert - alles, was nach "links" riecht, wird verteufelt oder zumindest ignoriert). So findet sich im Standard vom 20./21. August d.J. anlässlich von Charles Moores (ein konservativer Journalist des britischen Daily Telegraph) im Feuilleton aufsehenerregenden Zitats ("Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat") ein Verweis auf eben jene "Rechts-Links-Debatte", die bereits vor bzw. seit langem geführt wurde/wird. Dabei wird der Philosoph Norberto Bobbio zitiert, der die Sinnhaftigkeit einer Differenzierung zwischen Rechts und Links auch in der heutigen Zeit betont. In "Rechts und Links. Gründe und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung" fechtet er die Behauptung an, "dass das Links-Rechts-Schema nach Meinung vieler die Realitäten der zunehmend komplexeren Gesellschaften nicht mehr zu erfassen vermochte. Dem hielt Bobbio entgegen, dass ein guter Teil des menschlichen Wissens entlang großer Unterscheidungspaare organisiert ist. Auch Links bzw. Rechts zählt zu diesen 'großen Dichotomien', und an die Sinnhaftigkeit der Links-Rechts-Dyade machte er sich in seinem Buch. Er setzte sich mit der Spannung zwischen Freiheit und Gleichheit auseinander, von der Bobbio letztlich doch die wesentlichen Unterschiede in der Dyade herleitet: Rechte Politik orientiert sich an Tradition und Hierarchie, linke Politik an Gerechtigkeit und Gleichheit. Linke Politik zielt auf eine 'horizontale und egalitäre Vision' von Gesellschaft. Dabei kommt es aber sehr auf einen Unterschied zwischen 'natürlicher und sozialer Ungleichheit' an, wodurch eine weitere Facette der Dichotomien erkennbar wird: Links und Rechts stehen jeweils anders akzentuiert Natur und Geschichte gegenüber. Beide Lager entwickeln dabei ständig eine Tendenz zu Extremismen, die sich häufig treffen: Sie sind antidemokratisch, weil sie ihren Standpunkt absolut setzen. Wegen der schlechten Erfahrungen mit den Radikalpositionen tendierten zuletzt fast alle Kräfte zur Mitte." (zitiert aus: "Philosoph Bobbio analysierte die Links-Rechts-Dyade", Der Standard, 19. August 2011, Bert Rebhandl) - dies trifft auch in Österreich auf alle Parteien zu - außer die FPÖ, die weiter nach rechts driftet und damit, wie man sieht, sehr erfolgreich ist. Die einzige Partei, die (vermutlich nicht intellektuell, sondern eher instinktiv) die "richtigen" Schlüsse aus diesen Erkenntnissen gezogen hat. Solange alle anderen Parteien in die Mitte drängen und lieber Speichel und Spindel lecken, anstatt Farbe zu bekennen, wird die FPÖ damit auch weiterhin Erfolg haben, alle Skandale hin oder her.

Und so komplex ist der gesellschaftliche Sachverhalt jetzt auch wieder nicht, als dass man zu oben zitierten Unterscheidungen nicht fähig sein könnte! Also bitte, Leute, mehr Mut zur Erkenntnis!

Also, wo ist das Geld? Na, das wissen wir doch alle!

Und jetzt das eigentliche Thema: Die einfachen Antworten auf die ach so komplexe und unverständliche Welt der Wirtschaft, Politik und sozialen Ungerechtigkeiten ...
Zu den eingangs aufgeworfenen Fragen bezüglich der Ursachen der hohen Verschuldung von Menschen und Staaten, den hohen Mieten, den niedrigen Löhnen etc. muss man ja auch einmal die täglichen Meldungen neuer "Rekordgewinne" bei Banken, Investmentgesellschaften, Großkonzernen, Marken- und Luxusartikelherstellern gegenüberstellen - und man wird sehr sehr schnell und ganz einfach auf jene Gedanken kommen, die den Ausweg aus der permanenten "Krise" anzeigen: Stichwort "Verteilungsgerechtigkeit". Je höher die Gewinne der Unternehmen, desto geringer die Löhne der Arbeitenden. Je höher die Gewinne der Banken, desto höher die Verschuldung der Schuldner.

Was ist also meine "Aufgabe" als Bank, um höhere Gewinne zu machen? Die Schulden der anderen erhöhen! Und wie geht das? Rating-Agenturen! Hierzu der Exekutivdirektor der Europäischen Bank für Wideraufbau und Entwicklung, Kurt Bayer, in seinem Falter-Kommentar mit dem Titel "Entmachtet endlich die Finanzmärkte!" (Falter 32/11, 10. August 2011, S. 6 f.):
"Die Politik rühmt sich ihrer langwierig und unzureichend gefassten Beschlüsse und jammert, dass die gemeinen Finanzmärkte noch immer nicht zufrieden seien. Diese treiben die für Staatsschulden zu zahlenden Zinsen in schwindelnde Höhen und stufen dann Länder als zu risikoreich herab, weil sie ihre Schulden angesichts der hohen Zinsen und des darniederliegenden Wirtschaftswachstums nicht zahlen könnten, und treiben damit die Zinsen noch weiter hinauf: ein Teufelskreis."
Ein von Banken, Investoren und Rating-Agenturen Hand in Hand organisierter, abgesprochener, beabsichtigter und gesteuerter Teufelskreis, wohlgemerkt! Aber um das nicht so konkret auszusprechen sagt man lieber: "Die Märkte"!

eine sehr aufschlussreiche Grafik zur Einkommensverteilung (dargestellt wird der Anteil des bestverdienenden Prozentes der arbeitenden Bevölkerung am Gesamteinkommen eines Landes) liefert ausgerechnet die Neue Zürcher Zeitung ("Einkommenszuwächse nicht nur für die Reichen" NZZ, 2. August 2011, S. 22). Sehr gut kann man hier erkennen, wie nach einer Phase der Angleichung der Einkommensverteilung ab der Reagan/Thatcher-Ära (die die Liberalisierung der Finanzmärkte eingeleitet haben) die Ungleichheit wieder zunimmt. An der Spitze dieser Entwicklung, wenig überraschend, die USA und Großbritannien. Wann kommt es eigentlich in den USA zu den nächsten "Konsumkrawallen"? Wohl nur eine Frage von wenig Zeit ...

(zum vergrößern auf Grafik clicken)

Noch deutlicher wird im Falter ("Staatsverschuldung = Bankrotterklärung", 31/11, 3. August 2011, S. 6 f.) der Ökonom Stephan Schulmeister:
"Mainstream-Ökonomen differenzieren nicht zwischen den unterschiedlichen Interessen von Realkapital und Finanzkapital, ebenso wenig wie zwischen dem unterschiedlichen Verhalten der Akteure auf Güter- und Finanzmärkten. Die Folge: Der neoliberale Mainstream legitimiert mit seinen Modellen die Interessen eines diffusen Gesamtkapitals im Konflikt mit jenen der Arbeit. Hauptfeinde sind: Gewerkschaft und Sozialstaat. Dass die Finanzakrobaten den Interessen der Unternehmen unvergleichbar mehr schaden, bleibt ausgeblendet. Die Entfesselung der Finanzmärkte ist ja ein Hauptziel der neoliberalen Konterrevolution Ende der 60er-Jahre. [...] Die Staatsschuldenkrise in den USA und in Europa signalisiert die finale Phase in der Implosion des Finanzkapitalismus. Erfolgt die Entwertung des fiktiven Staatsanleihekapitals durch Teilbankrott oder Hochinflation (wie regelmäßig in der Wirtschaftsgeschichte), so werden die Folgen ziemlich verheerend sein. Der einzig erträgliche Ausweg - eine grundlegende Änderung der "Spielanordnung" - scheitert an der Lernschwäche der Eliten: Ärzte, deren Therapie Teil der Krankheit ist, verstärken zumeist die Dosis."
ergo: die Implosion ist de facto unaufhaltbar, ja sie beschleunigt sich zunehmend. Nicht, weil es nicht anders ginge, sondern aufgrund massiver grassierender Dumm- und Verblendetheit. Aber besser, die Implosion erfolgt rasch, als dass dieser Kapitalismus noch Jahrzehnte weiter künstlich am Leben erhalten wird. Aufgrund der damit verbundenen Effekte (immer stärkere Verarmung der Massen und steigender Reichtum der Reichsten) wäre dies ohnehin nicht möglich, es würde nur zu Jahrzehnten voller Aufstände und Bürgerkriege (Staatsgewalt, Sicherheitsdienste und Söldner gegen das Volk) führen. Eine Implosion auf dem Papier mit anschließendem Wechsel zu einem tauglicheren "System" statt einer Explosion auf den Straßen wäre sicherlich wünschenswerter. Aber hier spießt es sich und wir kommen zur Anfangsfrage zurück: Was soll sich ändern, wenn sich die Massen weigern, die richtigen Schlüsse aus der aktuellen Kapitalismuskrise zu ziehen und Alternativen zu erarbeiten und aufzuzeigen?

Die Massenproteste im Westen müssen sich politisieren. Es müssen die Grundlagen für die (funktionierende, gerechtere) Organisation der Gesellschaften nach dem fulmninanten Ende des Kapitalismus - und mit ihm die willenlosen politischen Eliten, deren einzige Funktion in den sich nun abzeichnenden "Nachtwärterstaaten" die Unterdrückung der Bevölkerung ist - geschaffen werden. Hierzu muss man sich endlich ernsthaft mit politischen Theorien auseinandersetzen, sei es nun Basisdemokratie, Kommunismus, Anarchismus, Liberalismus, Individualismus, Sozialismus. Dabei muss klar sein, dass Zustände wie die gegenwärtigen - alle arbeiten für den Gewinn weniger - keinesfalls mehr eintreten dürfen. Auf irgendeinen gemeinsamen Nenner wird man sich verständigen müssen, um nach der Implosion des Kapitalismus nicht "versehentlich" wieder einen "neuen" Kapitalismus aufzubauen ...

Dass all das möglich ist, legen viele Zahlen nahe, ein paar Beispiele:
- in Österreich werden so viele Überstunden gemacht, dass dies dem Äquivalent von 150.000 (!) Vollzeit-Arbeitsplätzen entspricht - dadurch würde, so Sozialwissenschafter Bernd Marin, wieder Vollbeschäftigung erreicht werden. (Bern Marin, "Sechs Urlaubswochen?", Der Standard, 20./21. August 2011, S. 15)
- durch die Anhebung des Pensionsalters, die angeblich notwendig ist, um die Pensionen bei steigender Lebenserwartung noch finanzieren zu können, gehen (bei den Jungen) Jobs verloren. Wären Einkommen und Vermögen jedoch gleichmäßig(er) verteilt (Stichwort: Vermögenssteuer, Transaktionssteuer, Erbschaftssteuer und weitere Steuern auf großes Eigentum und Vermögen), müsste nicht nur das Pensionsantrittsalter nicht angehoben werden, auch ein 4-Stunden-Arbeitstag scheint in einer Welt, in der es nicht um Profitmaximierung geht, denkbar.
 
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