Freitag, 23. September 2011

Zürich blickt drittem Krawall-Wochenende entgegen

[letztes Update: 24.9. (Fotos, Links)]
Nach zwei Krawall-Wochenenden, die am Schluss nur noch wenig mit der eigentlichen Idee eines RTS ("Reclaim the Streets", unangemeldeter Party-Umzug im öffentlichen urbanen Raum) zu tun hatten, blickt die ganze Stadt nun gespannt dem dritten Wochenende nach Ausbruch der Jugendunruhen (wohl die passendere Bezeichnung) entgegen.

Ich befinde mich mittlerweile vor Ort in Zürich und habe bereits mit einigen Augenzeugen bzw. Anwesenden der Krawalle gesprochen. Hierbei wird eine immer größere Diskrepanz zur Medienberichterstattung, Politik- und Polizeipropaganda offensichtlich. Während Politik, Polizei und Medien überwiegend "Hooligans" und "Linksautonomen" die Schuld an den Krawallen zuschieben - zugegeben mit einem gewissen Vorbehalt, so hat etwa der Tages-Anzeiger zu seinem "Erstaunen" festgestellt, dass letzten Samstag "kein schwarzer Block" an den Unruhen zu sehen war - zeichnet sich nach Angaben von Anwesenden und Augenzeugen ein ganz anderes Bild.

Nach aktuellem Stand der Nachforschungen dürfte die erste Party am Bellevue, zu der am Samstag den 10. September 1.000 bis 2.000 Menschen erschienen, noch tatsächlich in direkter Verbindung zur polizeilichen Auflösung illegaler Partys in und um Zürich in den Wochen davor gestanden sein. Es gab Musik und DJs, nach Provokationen von beiden Seiten eskalierte die Lage, kaum jemand wusste, was vor sich geht, und einige begannen zu randalieren, während der Rest zuschaute oder abhaute.

mit diesen schweren Betonstücken wurde vom Hirschengraben aus der am Central positionierte Wasserwerfer aus knapp 10 Metern Höhe beworfen - das gepanzerte Fahrzeug blieb laut Augenzeugen unbeschädigt. Auch weitere Spuren (Fotos auf flickr) waren 6 Tage nach dem jüngsten Krawall noch zu finden.

Die daraufhin für den nächsten Samtag (17.9.) angekündigte Party (RTS) am Central wurde aufgrund der großen öffentlichen Aufmerksamkeit und dem "leak" der Ketten-SMS spontan und ohne Vorab-Information der Medienöffentlichkeit auf Freitag (16.9.) vorverlegt (siehe folgender Abschnitt) und erreichte etwa 200 bis 400 Personen. Was dann am Samstag, 17.9., geschah, hatte im Grunde gar nichts mehr mit dem auf den Vortag vorverlegten RTS zu tun. Es kamen nur noch jene, die durch SMS und Medien vom angekündigten Krawall erfahren haben und in der Erwartung eines solchen zum Hauptbahnhof/Central kamen (vgl. auch Tages-Anzeiger, 19.9.: "Sie kamen, um zu prügeln"). Diese Leute werden von Augenzeugen als überwiegend unpolitische Jugendliche beschrieben, die Frust ablassen oder sich mit der Polizei messen wollten. Nun blickt die ganze Stadt gespannt auf morgen Samstag, ob es erneut zu Krawallen kommen wird. Daher noch einmal ein aktualisierter Rückblick auf die Ereignisse der letzten beiden Wochenenden.

die "linke Szene" und die Party

Die sogenannte "linke Szene" hielt sich den Samstags-Krawallen (10.9, 17.9.) überwiegend fern (daher ist es auch überflüssig, den Begriff "linke Szene" konkreter auszudifferenzieren). Sie war lediglich am spontan vorverlegten Freitags-RTS (16.9.) beteiligt, wo es jedoch bis kurz vor Schluss keine Ausschreitungen gab, da von Seiten der Organisatoren (die vermutlich aus der "illegalen Partyszene", die in der Umgebung von Zürich regelmäßig unangemeldete Partys organisiert) und Teilnehmenden kein Interesse daran bestand: die Idee eines RTS ist ja eigentlich, den öffentlichen Raum friedlich durch eine Party "zurückzuerobern". Zu Krawallen kommt es meistens nur dann, wenn die Polizei gewaltsam die Menge aufzulösen versucht. Da die Polizei letzten Freitag die 200 bis 400 Personen am Helvetiaplatz zunächst in Ruhe feiern ließ und auch nicht einschritt, als die Menge Richtung Stauffacher/Langstrasse zog, gab es auch vonseiten der RTS-TeilnehmerInnen keine Aggressionen.

Um auch gegen Ende des RTS die Lage ruhig zu halten, wollten die RTS-Teilnehmenden gegen Mitternacht ein bereits vor einer Weile für mehrere Monate besetztes Haus am Stauffacher erneut (für eine Nacht -> Sauvage) besetzen, das sich bereits aus seiner Besetzungs-Zeit stadtweit einen Ruf als "Party-Location" verschafft hat. Die Polizei - möglicherweise in der Annahme, die Menge wolle in die Innenstadt/Paradeplatz (Sitz der Banken) ziehen - versperrte jedoch die Straße und begann, als die Menge die Sperre über eine Seitenstraße umgehen wollte, mit Gummischrot und Tränengas zu schießen. Die Menge löste sich daraufhin teilweise auf, versammelte sich jedoch neu und zog friedlich zur Langstrasse weiter (alles weitere, siehe letzter Blog-Eintrag).

Hätte man die Jugendlichen ins leerstehende Haus ziehen lassen, um dort abseits der kommerziellen (teurer Eintritt, teure Getränke) und exklusiven (im Sinne von ausschließend --> Türsteher, rassistische und lookistische Türpolitik) Bars und Clubs weiterzufeiern, hätte es wohl auch keine Ausschreitungen gegeben.

mehr Respekt vor der Polizei durch Willkür, Rassismus und Einschüchterung?

Am nächsten Tag (Samstag, 17.9.) gab es dann die Gegendemo zur "Lebensschützer"-Demo christlicher Fundamentalisten, wo es ebenfalls zum Einsatz von Gummischrot und Tränengas gab, was nach Ansicht einiger TeilnehmerInnen vollkommen überzogen und überflüssig war. Die Polizei, angetrieben von ihrer eigenen Unwissenheit darüber, was tatsächlich vorgeht und in dieser Konfusion bestätigt durch verblendende und verhetzende Medienartikel und Politiker-Statements, war wohl bereits zu nervös und unsicher und schritt "präventiv" repressiv ein.

An dieser Stelle muss ausnahmsweise auch mal auf die Gemütslage der PolizistInnen eingegangen werden. Die Stimmung ist wenig überraschend ziemlich unten - von allen Seiten kommt Kritik, die entweder nach mehr Gewalt oder mehr Zurückhaltung ruft. Einen Mittelweg zu finden ist schwierig, zumal in den letzten Monaten und Jahren schon viel Porzellan zerschlagen worden ist. Vor allem die Jugendlichen aus den innerstädtischen ArbeiterInnen-Quartieren links und rechts der Langstraße, die Mehrheit von ihnen mit Migrationshintergrund, nimmt der Polizei die nicht nur rassistischen sondern meist auch willkürlichen und häufig unnötig brutalen Personenkontrollen übel.

Diese Personenkontrollen wurden insbesondere ab 2010 forciert, in einer Aktion namens "Respekt" - womit gemeint war, dass die Jugend mehr Respekt vor der Polizei gewinnen soll (daher wohl auch die Willkürlichkeit und Brutalität, in der Annahme, dadurch Respekt (durch Angst) herstellen zu können). Diese psychologisch in jeder Hinsicht vollkommen widersinnige Annahme konnte nur kontraproduktiven Effekt haben: Es kam bereits 2010 zu einer großen RTS, die die Polizei völlig überraschte und die Bahnhofstraße verwüstete (was nicht unbedingt beabsichtigt war, jedenfalls nicht von jenen, die RTS organisieren und das Soundsystem zur Verfügung stellen). Die Gegend, die unmittelbar an den Hauptbahnhof und seine teueren Büro- und Einkaufsviertel angrenzt, ist zudem seit Jahren Zielgegenstand diverser "Aufwertungs"-Bestrebungen, sprich Gentrifizierung, die auf Kosten (im doppelten Sinn) der bisherigen Bevölkerung geht.

Es zeigte sich jedoch, dass bei der Jugend keineswegs mehr Respekt erzeugt werden konnte, nach heftiger, wochenlanger Kritik durch Medien und Opposition musste die damalige Polizeivorsteherin zurücktreten - sie wurde durch den Grünen Daniel Leupi ersetzt.

Hoffnungen, dass dadurch eine umsichtigere Polizeipolitik zustande kommt, wurden jedoch rasch enttäuscht. Leupi machte zunächst durch verstärkte RadfahrerInnen-Kontrollen auf sich aufmerksam (wohl in jenem opportunistischen Reflex, sich als Grüner nicht als voreingenommen und parteiisch abstempeln zu lassen). Im selben Reflex dürfte auch die Fortführung rassistischer Kontrollen im Dienste der Gentrifizierung im Langstrassen-Quartier erfolgt sein. Zudem fielen in seine Amtszeit die schikanösen Kontrollen von AsylantInnen vor der Autonomen Schule (ASZ), wo BesucherInnen kostenloser Deutschkurse beim Verlassen des Gebäudes abgefangen und teilweise mitgenommen, eingesperrt und abgeschoben wurden. Es wird vermutet, dass sich Teile der Polizei dabei bewusst Anordnungen der Spitze widersetzten, zumal Leupi sich selbst nicht begeistert von derartigen Razzien zeigte.

Dazu muss man auch wissen, dass AsylantInnen in Zürich lediglich mit bescheidenen Migros-Gutscheinen "versorgt" werden, mit denen man weder Busfahren noch sonst irgendetwas machen kann, was es nicht im Migros-Supermarkt gibt. Aus diesem Grund gibt es auch Initiativen, die Migros-Gutscheine gegen Bargeld tauschen und kostenlose Deutschkurse in der ASZ. Diese zivilgesellschaftlichen Initiativen, die im Gegensatz zum Staat auch hilfesuchende Flüchtlinge als Menschen betrachten, wurden vom Staat nicht nur nicht unterstützt sondern durch derartige Polizei-Schikanen auch noch torpediert.

All dies - Polizeiwillkür und -gewalt bei ethnischen Personenkontrollen, Torpedierung zivilen Engagements für stigmatisierte Flüchtlinge, Markierung einer "Law-and-Order"-Politik im öffentlichen Raum und brachiales Durchgreifen bei unangemeldeten Partys, Kundgebungen und Demonstrationen - ist die Grundlage für jenen "mangelnden Respekt", den die Polizei und die Politik nun beklagt, aber genau durch jene "respektfördernden" Maßnahmen erzeugt wurde, wie sie nun im Unwillen zum Erkenntnisgewinn erneut gefordert werden ...

Stadt militärisch besetzen?

Sprichwörtlich den Vogel abgeschossen hat aber die FDP - die Freisinnigen, wie sie sich selbst nennen, oder frei von allen Sinnen, wie wohl die korrektere Ausformulierung ihres Parteikürzels wäre. Diese fantasieren "Londoner Zustände" herbei, weil im Stadtzentrum an zwei Wochenenden in Folge mehrere hundert PolizistInnen und Jugendliche randalierten, und träumen bereits von einer weiteren Eskalation, in der Sorge, dass die Gewaltspirale nachlassen könnte und ihre Forderung nach mehr Polizei und Überwachung dadurch auch weiterhin keine Mehrheit finden kann. Daher ruft die FDP nach dem Ausnahmezustand für Zürich, denn nur in diesem könnte tatsächlich die Schweizer Armee Zürich besetzen, so wie die FDP es wünscht. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, ist zu befürchten, dass sich am kommenden Wochenende FDP-Politiker vermummen und als Provokateure unter die Jugendlichen mischen. Noch wahrscheinlicher ist es jedoch, dass die FDP für diese "Drecksarbeit" Jugendliche bezahlt, die im Dienste der FDP dafür sorgt, FDP-Forderungen nach Polizei- und Überwachungsstaat und Abschaffung staatlicher Sozialleistungen nach britischem Vorbild zu einer Mehrheit zu verschaffen. Klingt absurd? Ich denke nicht. Wer unter gegenwärtigen Zu- und Umständen ohne jegliche Ursachenforschung begeistert nach einer militärischen Besetzung von Zürich ruft, der muss wohl als geistig eingeschränkt leistungsfähig bezeichnet werden und ergo muss solchen Menschen, die zwanghaft jedes Ereignis ins eigene Weltbild zu pressen versuchen, jede Wahnsinnstat zugetraut werden.

Vom Stolz, vor Krawallen geflüchtete Menschen "erwischt" zu haben

SVP-Stadtpolitiker Mauro Tuena (der Toni Mahdalik von Zürich) ist gegen eine militärische Besetzung ("Nein, nein, nein: Es braucht keine Armee." zitiert ihn Blick am Abend, 22.9.2011, S. 10), denn, so seine Überzeugung: "Die Polizei macht eine ausgezeichnete Arbeit, sonst hätte sie nicht so viele verhaftet."

Diese Aussage ist derart dummdreist, dass man vermuten muss, Tuena wisse um die wahren Umstände der Verhaftungen - im Gegensatz zu den Medienberichten, die unkritisch Polizeiaussagen wiedergeben - Bescheid. Denn von den nach offiziellen Angaben 91 Verhafteten (25 davon unter 18, weitere 3 unter 15 Jahren alt / 76 Schweizer Staatsbürger, insgesamt 3/4 der 91 "Verdächtigen" aus Stadt oder Kanton Zürich) sind vermutlich deutlich mehr als die Hälfte Unschuldige. Sie wurden von der Polizei gegen Ende der letzten Krawallnacht regelrecht eingesammelt, viele sogar mit Gummischrot zusammengetrieben und dann ins Gefängnis verfrachtet. Darunter zum Beispiel sieben Mädchen, die gemeinsam in der Zelle saßen. Vier davon waren eine Gruppe Freundinnen, die gegen 1 Uhr Nacht, als es um das Central (vermeintlich?) bereits ruhig war, ihr Lokal im Niederdorf verlassen haben und nach Hause gehen wollten. Sie wurden von einem Polizeikordon überrascht, der mit großem Abstand offenbar einer Gruppe männlicher Jugendlicher auf den Fersen war - die Mädchen flohen über den Limmatsteg auf den Platzspitz. Dort hatten sich viele Menschen vor den Krawallen zurückgezogen, im Glauben, dort sicher zu sein. Doch wenig später räumte die Polizei den Park und setzte dabei Gummischrot gegen all jene ein, die davon liefen. Also blieben die Mädchen stehen und ließen sich widerstandslos verhaften. Mit ihnen wurden rund 40 weitere Personen verhaftet. Das war die größte Verhaftungs-Welle jener Nacht, auf die rechte Politiker wie Mauro Tuena nun so stolz sind.

Zu Besuch im Mädchenknast - wer Dreads hat, bleibt hier

Die anderen drei Mädchen, mit denen die Freundinnen dann in die Mädchenabteilung eines Gefangenenhauses gebracht wurden, schienen ebenfalls unbeteiligt zu sein. Zwei der Mädchen dürften ebenfalls im Ausgang gewesen sein, eine von ihnen sprach französisch und war offenbar in Zürich zu Besuch. Sie wurde von ihrem Freund getrennt, wusste nicht, was man ihr vorwirft und war ziemlich aufgelöst. Das siebte Mädchen im Mädchenknast zählte zu einer Gruppe "Hippies", die im Platzspitz-Park am chillen waren. Sie hatte Dreadlocks und wurde von der Polizei als erste zum Verhör vorgeladen. Sie dürfte auch das einzige Mädchen gewesen sein, das auch nach 12 Stunden U-Haft nicht freigelassen wurde.

Dieses Vorgehen bei den Mädchen lässt nichts gutes zu den Vorgängen bei den Burschen erahnen. Wer verdächtig aussieht, wird wohl als schuldig befunden. Inwiefern Beweise bei der Verurteilung der Jugendlichen noch eine Rolle spielen, ist fraglich. Laut Medienberichten wurden nach 12 bis 24 Stunden U-Haft 43 Personen wieder entlassen (48 mussten weiter in U-Haft bleiben und wurden von zehn "Sonderstaatsanwälten" verhört), nach zwei Tagen dürften immer noch etwa 20 im Knast gesessen haben. Die Zahl der Anzeigen dürfte aber höher liegen.

das dritte Wochenende

Es kursieren Gerüchte, die auch für diesen Samstag keine friedliche Nacht erahnen lassen. FMO wird versuchen, die Ereignisse dieses Mal aus nächster Nähe zu dokumentieren, wobei das brutale, willkürliche und vor allem rücksichtslose Vorgehen der Polizei auch gegenüber offensichtlich Unbeteiligten zu großer Vorsicht ermahnt. Ohnehin sind unabhängige Blogger/Fotografen/Journalisten bei Polizeiaktionen nicht gern gesehen, anders als in Wien wird die unabhängige Presse hier nicht nur eingeschüchtert und behindert, es wird sogar davor gewarnt, dass die Polizei Kameras beschießt bzw. bei Verhaftung entwendet und "verschwinden" lässt... Mal sehen, was sich tun lässt ...
 
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